E.M. Remarque
Oskar schließt die Augen. Als er
die Lider wieder öffnet, wirken sie schon etwas wäßrig. Er starrt Georg weiter
an, und nach einer Weile stehen ihm tatsächlich dicke Tränen in den blauen
Augen. Noch eine Minute, und sie rollen ihm über die Wangen. Oskar zieht ein
Taschentuch heraus und tupft sie auf. «Wie war das?» fragt er und zieht die
Uhr. «Knappe zwei Minuten. Manchmal schaffe ich es in einer, wenn eine Leiche
im Hause ist.»
«Großartig.»
Georg
schenkt von dem Kundenkognak ein. «Sie sollten Schauspieler werden, Herr
Fuchs.»
«Daran
habe ich auch schon gedacht; aber es gibt zu wenige Rollen, in denen männliche
Tränen verlangt werden. Othello natürlich, aber sonst ...»
«Wie
machen Sie es? Irgendein Trick?»
«Imagination»,
erwidert Fuchs schlicht. «Starke, bildhafte Vorstellungskraft.»
«Was
haben Sie sich denn jetzt vorgestellt?»
Oskar
trinkt sein Glas aus. «Offen gestanden, Sie, Herr Kroll. Mit zersplitterten
Beinen und Armen und einem Schwarm Ratten, der Ihnen langsam das Gesicht abfrißt,
während Sie noch leben, wegen der gebrochenen Arme die Nager aber nicht
abwehren können. Entschuldigen Sie, aber für eine so rasche Vorstellung
brauchte ich ein sehr starkes Bild.»
Georg
fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Es ist noch da. «Stellen Sie sich
auch ähnliche Sachen von Hollmann und Klotz vor, wenn Sie für die arbeiten?»
frage ich.
Fuchs
schüttelt den Kopf. «Bei denen stelle ich mir vor, daß sie hundert Jahre alt
werden und reich und gesund bleiben, bis sie an einem Herzschlag im Schlaf
schmerzlos abfahren – dann strömen mir die Tränen nur so vor Wut.»
Georg
zahlt ihm die Provisionen für die letzten beiden Verrätereien aus. «Ich habe
neuerdings auch einen künstlichen Schluckauf entwickelt», sagt Oskar. «Sehr
wirksam. Beschleunigt den Abschluß. Die Leute fühlen sich schuldig, weil sie
glauben, es sei eine Folge der Teilnahme.»
«Herr
Fuchs, kommen Sie zu uns!» sage ich impulsiv. «Sie gehören in ein künstlerisch
geleitetes Unternehmen, nicht zu kahlen Geldschindern.»
Tränen-Oskar
lächelt gütig, schüttelt das Haupt und verabschiedet sich. «Ich kann nun mal
nicht. Ohne etwas Verrat würde ich ja nichts sein als ein flennender
Waschlappen. Der Verrat balanciert mich. Verstehen Sie?»
«Wir
verstehen», sagt Georg. «Von Bedauern zerrissen, aber wir respektieren
Persönlichkeit über alles.»
Ich
notiere die Adressen für die Hügelsteine auf ein Blatt und übergebe sie
Heinrich Kroll, der im Hof seine Fahrradreifen aufpumpt. Er sieht die Zettel
verächtlich an. Für ihn als alten Nibelungen ist Oskar ein gemeiner Lump,
obschon er von ihm, ebenfalls als alter Nibelunge, nicht ungern profitiert.
«Früher hatten wir so etwas nicht nötig», erklärt er. «Gut, daß mein Vater das
nicht mehr erlebt hat.»
«Ihr
Vater wäre nach allem, was ich über diesen Pionier des Grabsteinwesens gehört
habe, außer sich vor Freude gewesen, seinen Konkurrenten einen solchen Streich
zu spielen», erwidere ich. «Er war eine Kämpfernatur – nicht wie Sie auf dem
Felde der Ehre, sondern in den Schützengräben rücksichtslosen Geschäftslebens.
Kriegen wir übrigens bald die Restzahlung für das allseitig polierte
Kreuzdenkmal, das Sie im April verkauft haben? Die zweihunderttausend, die noch
fehlen? Wissen Sie, was die jetzt wert sind? Nicht einmal einen Sockel.»
Heinrich
brummt etwas und steckt den Zettel ein. Ich gehe zurück, zufrieden, ihn etwas
gedämpft zu haben. Vor dem Hause steht das Stück Dachröhre, das beim letzten
Regen abgebrochen ist. Die Handwerker sind gerade fertig; sie haben das
abgebrochene Stück erneuert. «Wie ist es mit der alten Röhre?» fragt der
Meister. «Die können Sie doch nicht mehr brauchen. Sollen wir sie
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