E.M. Remarque
stählern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das
Büro darunter, zwei Fenster, eines zum Hof und eines zur Straße. Ich lehne
einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plötzlich tönt ein
erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stöhnen folgt. Es ist
Heinrich Kroll, der im andern Flügel schläft. Er hat wieder einmal einen seiner
Alpträume. 1918 ist er verschüttet worden, und heute, fünf Jahre später, träumt
er immer noch ab und zu davon.
Ich
koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gieße.
Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der Inflation
immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus für einen neuen Anzug – ich kann
dafür einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos –, aber
für kleine Sachen genügt es, und darunter natürlich, als Trost, ab und zu für
eine Flasche Schnaps.
Ich
esse mein Brot mit Margarine und Pflaumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie
stammt aus den Vorräten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das
macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich
meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzügen umgearbeitete
Militäruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefärbt – viel mehr war
mit dem graugrünen Stoff nicht zu machen. Außerdem habe ich noch einen Anzug
aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein
richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe
ich ihn heute an. Er paßt zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft
habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.
Friedlich
wandere ich durch die Straßen der Stadt. Werdenbrück ist eine alte Stadt von
60000 Einwohnern, mit Holzhäusern und Barockbauten und scheußlichen neuen
Vierteln dazwischen. Ich durchquere sie und gehe zur anderen Seite hinaus, eine
Allee mit Roßkastanien entlang und dann einen kleinen Hügel hinauf, auf dem
sich in einem großen Park die Irrenanstalt befindet. Sie liegt still und
sonntäglich da, Vögel zwitschern in den Bäumen, und ich gehe hin, um in der
kleinen Kirche der Anstalt für die Sonntagsmesse die Orgel zu spielen. Ich habe
das während meiner Vorbereitungen zum Schulmeister gelernt und diese Stellung
vor einem Jahr als Nebenberuf geschnappt. Ich habe mehrere solcher Nebenberufe.
Einmal in der Woche erteile ich den Kindern des Schuhmachermeisters Karl Brill
Klavierunterricht und bekomme dafür meine Schuhe besohlt und etwas Geld – und
zweimal in der Woche gebe ich dem flegeligen Sohn des Buchhändlers Bauer
Nachhilfestunden, ebenfalls für etwas Geld und das Recht, alle neuen Bücher zu
lesen und Vorzugspreise zu bekommen, wenn ich welche kaufen will. Diese
Vorzugspreise werden natürlich vom gesamten Dichterklub ausgenützt, sogar von
Eduard Knobloch, der dann auf einmal mein Freund ist.
Die Messe beginnt um
neun Uhr. Ich sitze an der Orgel und sehe die letzten Patienten hereinkommen;
Sie kommen leise und verteilen sich auf die Bänke. Ein paar Wärter und
Schwestern sitzen zwischen ihnen und an den Seiten. Alles geht sehr behutsam
zu, viel lautloser als in den Bauernkirchen, in denen ich zur Zeit meiner
Schulmeisterei gespielt habe. Man hört nur das Gleiten der Schuhe auf dem
Steinboden; sie gleiten, sie trampeln nicht. Es ist das Geräusch der Schritte
von Menschen, deren Gedanken weit weg sind.
Vor
dem Altar sind die Kerzen angezündet. Durch das bunte Glas der Fenster fällt
das Licht von draußen gedämpft herein und mischt sich mit dem Kerzenschein zu
einem sanften, rot und blau überwehten Gold. Darin steht der Priester in seinem
brokatenen Meßgewand, und auf den
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