E.M. Remarque
nicht die
vergitterten Fenster sähe.
Ich
liebe den Park, weil er still ist und weil ich hier mit niemand über Krieg,
Politik und Inflation zu reden brauche. Ich kann ruhig sitzen und so
altmodische Dinge tun wie auf den Wind lauschen, den Vögeln zuhören und das
Licht beobachten, wie es durch das helle Grün der Baumkronen filtert.
Die
Kranken, die ausgehen dürfen, wandern vorüber. Die meisten sind still, andere
reden mit sich selbst, ein paar diskutieren lebhaft mit Besuchern und Wärtern,
und viele hocken schweigend und allein, ohne sich zu rühren, mit gebeugten
Köpfen, wie versteinert in der Sonne – bis sie wieder in ihre Zellen
zurückgeschafft werden.
Es
hat einige Zeit gedauert, ehe ich mich an den Anblick gewöhnt habe, und selbst
heute kommt es ab und zu noch vor, daß ich die Irren anstarre wie zu Anfang:
mit einem Gemisch aus Neugier, Grauen und etwas namenlosem dritten, das mich an
den Augenblick erinnert, als ich meinen ersten Toten sah. Ich war damals zwölf
Jahre alt, der Tote hieß Georg Hellmann, eine Woche vorher hatte ich mit ihm
noch gespielt, und nun lag er da, zwischen Blumen und Kränzen, etwas unsagbar
Fremdes aus gelbem Wachs, das in einer entsetzlichen Weise nichts mehr mit uns
zu tun hatte, das fort war für ein unausdenkbares Immer und doch noch da, in
einer stummen, seltsam kühlen Drohung. Später, im Kriege, habe ich dann
unzählige Tote gesehen und kaum mehr dabei empfunden, als wäre ich in einem
Schlachthause – aber diesen ersten habe ich nie vergessen, so wie man alles
Erste nicht vergißt. Er war der Tod. Und es ist derselbe Tod, der mich manchmal
aus den erloschenen Augen der Irren anblickt, ein lebendiger Tod,
unbegreiflicher fast noch und rätselhafter als der andere, stille. Nur bei
Isabelle ist das anders.
Ich
sehe sie
den Weg vom Pavillon für Frauen herankommen. Ein gelbes Kleid schwingt wie eine
Glocke aus Shantungseide um ihre Beine, und in der Hand hält sie einen flachen,
breiten Strohhut.
Ich
stehe auf und gehe ihr entgegen. Ihr Gesicht ist schmal, und man sieht darin
eigentlich nur die Augen und den Mund. Die Augen sind grau und grün und sehr
durchsichtig, und der Mund ist rot wie der einer Lungenkranken oder als hätte
sie ihn stark geschminkt. Die Augen können aber auch plötzlich flach,
schieferfarben und klein werden und der Mund schmal und verbittert wie der
einer alten Jungfer, die nie geheiratet worden ist. Wenn sie so ist, ist sie Jennie,
eine mißtrauische, unangenehme Person, der man nichts recht machen kann – wenn
sie anders ist, ist sie Isabelle. Beides sind Illusionen, denn in Wirklichkeit
heißt sie Geneviève Terhoven und leidet an einer Krankheit, die den häßlichen
und etwas gespenstischen Namen Schizophrenie führt – Teilung des Bewußtseins,
Spaltung der Persönlichkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich für
Isabelle oder Jennie hält – jemand andern, als sie wirklich ist. Sie ist eine
der jüngsten Kranken der Anstalt. Ihre Mutter soll im Elsaß leben und ziemlich
reich sein, sich aber wenig um sie kümmern – ich habe sie jedenfalls hier noch
nicht gesehen, seit ich Geneviève kenne, und das ist schon sechs Wochen her.
Sie
ist heute Isabelle, das sehe ich sofort. Sie lebt dann in einer Traumwelt, die
nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, und ist leicht und schwerelos, und ich
würde mich nicht wundern, wenn die Zitronenfalter, die überall herumspielen,
sich ihr auf die Schultern setzten.
«Da
bist du!» sagt sie strahlend. «Wo warst du all die Zeit?»
Wenn
sie Isabelle ist, sagt sie du zu mir. Das ist keine besondere Auszeichnung; sie
sagt dann du zu aller Welt.
«Wo
warst du?» fragt sie noch einmal.
Ich
mache eine Bewegung in die Richtung des Tores.
«Irgendwo
– da draußen ...»
Sie
sieht mich einen Augenblick forschend
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