E.M. Remarque
Stufen des Altars knien die Meßdiener in
ihren roten Talaren mit den weißen Überwürfen.
Ich
ziehe die Register der Flöten und der Vox humana und beginne. Mit einem Ruck
wenden sich die Köpfe der Irren in den vorderen Reihen um, alle auf einmal, als
würden sie an einer Schnur herumgezogen. Ihre bleichen Gesichter mit den
dunklen Augenhöhlen starren ausdruckslos nach oben zur Orgel. Sie schweben wie
flache helle Scheiben in dem dämmernden goldenen Licht, und manchmal, im
Winter, im Dunkeln, sehen sie aus wie große Hostien, die darauf warten, daß der
Heilige Geist in sie einkehre. Sie gewöhnen sich nicht an die Orgel; sie haben
keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Flöten
und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann
beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.
Nicht
alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich
nicht bewegen. Sie sitzen da, als wären sie eingehüllt in eine furchtbare
Trauer und um sie wäre nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das
auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des
gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik
hingegeben, gegen die die Orgel blaß und grob klingt. Und vielleicht auch
denken sie gar nichts – gleichgültig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur
wir beseelen die Natur. Wie sie sein mag, wenn sie sie selbst ist – vielleicht
wissen es die Köpfe da unten; aber sie können das Geheimnis nicht verraten. Was
sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als wären sie die letzten
Abkommen der Turmbauer von Babel, ihre Sprache sei verwirrt und sie könnten
nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.
Ich
spähe nach der ersten Reihe. An der rechten Seite, in einem Flirren von Rosa
und Blau sehe ich den dunklen Kopf Isabelles. Sie kniet sehr gerade und schlank
in der Bank. Ihr schmaler Kopf ist zur Seite geneigt wie bei einer gotischen
Statue. Ich stoße die Gamben und die Register der Vox humana zurück und ziehe
die Vox Celeste. Es ist das sanfteste und entrückteste Register der Orgel. Wir
nähern uns der heiligen Wandlung. Brot und Wein werden in den Leib und das Blut
Christi verwandelt. Es ist ein Wunder – ebenso wie jenes andere, daß aus Staub
und Lehm der Mensch geworden sei. Riesenfeld behauptet, das dritte wäre, daß
der Mensch mit diesem Wunder nicht viel mehr anzufangen gewußt habe, als
seinesgleichen auf immer großzügigere Weise auszunutzen und umzubringen und die
kurze Frist zwischen Geburt und Tod mit soviel Egoismus wie nur möglich
vollzustopfen, obschon für jeden doch nur eines absolut sicher sei von Beginn:
daß er sterben müsse. Das sagt Riesenfeld von den Odenwälder Granitwerken,
einer der schärfsten Kalkulatoren und Draufgänger im Geschäft des Todes. Agnus
Dei qui tollis peccata mundi.
Ich
erhalte
nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Frühstück aus Eiern,
Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehört zu meinem Vertrag. Ich komme
damit gut über das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards Eßkarten
nicht. Außerdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, für die ich gerade mit
der Straßenbahn hin- und zurückfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine
Erhöhung verlangt. Warum, weiß ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den
Nachhilfestunden für den Sohn des Buchhändlers Bauer kämpfe ich darum wie ein
wilder Ziegenbock.
Nach
dem Frühstück gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schönes,
weitläufiges Gelände mit Bäumen, Blumen und Bänken, umgeben von einer hohen
Mauer, und man könnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man
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