Emerald: Hörspiel
Eindruck, dass mein Gehirn aufgeweicht wird.«
»Ich auch.«
»Glaubst du, er hat mit uns irgendwas Magisches angestellt? Ich habe Dinge gesagt, die ich noch nie jemandem erzählt habe. Glaubst du, es ist alles in Ordnung?«
Kate hörte die Sorge in Emmas Stimme. Sie erforschte ihre eigenen Gefühle. Sie wusste, wie man sich normalerweise fühlte, wenn man jemandem zu viel von sich selbst offenbart hatte. Man schämte sich, bereute die eigene Gutgläubigkeit und wünschte sich, man könnte das Gesagte zurücknehmen. Nach
dem Gespräch mit Dr. Pym aber fühlte sie sich, als ob sie einen Teil der Last, die sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte, hatte ablegen dürfen. Und während sie die Wendeltreppe zu Abrahams Apartment hinaufstieg, war ihr merkwürdig leicht ums Herz. Sie spürte den kalten Luftzug, der durch die Wände pfiff, hörte den Gesang der Vögel von irgendwo weit her, das Knarren der Stufen unter ihren und Emmas Füßen. Und obwohl die Aufgabe, die vor ihnen lag, ihr Angst einflößte – denn sie hatte keine Ahnung, wie sie und ihre elfjährige Schwester Michael aus den Klauen der Hexe und ihrer Dämonensoldaten befreien sollten –, fühlte sie sich hundertmal besser als heute Morgen.
»Ja«, sagte sie, »ich glaube, es ist in Ordnung.«
»Das glaube ich auch«, sagte Emma. Und Kate sah, dass sie lächelte.
Sie hämmerten wieder an Abrahams Tür, diesmal zwei volle Minuten lang. Aber auch jetzt blieb die Tür verschlossen.
»Er fängt langsam an, mich zu ärgern«, sagte Emma.
Im Erdgeschoss putzte Miss Sallow gerade den Boden in der Eingangshalle.
»Ich habe den alten Trottel einkaufen geschickt, um die Gans zu besorgen, die der Doktor haben will. Vermutlich ist er dafür wieder nach Westport gefahren. Aber er wird vor Einbruch der Nacht zurück sein.«
»Aber wir müssen jetzt mit ihm reden«, sagte Emma.
»Ach tatsächlich, königliche Hoheit? Nun, vielleicht solltest du dann in Zukunft Termine mit deinem Privatsekretär vereinbaren. Aber bis es so weit ist …« Sie drückte Emma einen Wischmopp in die Hand und Kate einen Putzeimer und eine Wurzelbürste. »Bis es so weit ist, könnt ihr zwei euch nützlich machen.«
Sie scheuchte sie in das große, elegante Speisezimmer, wo – so sagte sie – Dr. Pym am Heiligen Abend das Abendessen einzunehmen wünsche. Der Raum war riesig und mit kunstvoll geschnitzten hölzernen Wandpaneelen versehen. In der Mitte stand ein langer Eichentisch. Über dem Tisch hingen zwei schmiedeeiserne Kronleuchter, an denen Spinnweben baumelten wie Lametta. Der Kamin war so groß, dass Kates und Emmas Bett bequem darin Platz gehabt hätte. Im Augenblick lebte eine Fuchsfamilie dort. Zwei Steindrachen hielten den Kaminsims auf ihren Schultern, und auch sie waren – wie der Rest des Raums – von einer dicken Ruß- und Staubschicht bedeckt.
»Dr. Pym hat verboten, die Füchse zu vertreiben, aber der Rest soll so sauber werden wie ein Sonntagmorgen im Pariser Louvre.«
»Das ist so was von dämlich«, brummte Emma, als Miss Sallow gegangen war. »Wir müssen Michael helfen!«
»Ich weiß«, sagte Kate. »Aber wir können doch sowieso nichts machen, bis wir das Foto von Abraham haben.«
Emma murmelte etwas Unverständliches. Dann bückte sie sich und fing an, den Boden zu wischen. Kate befeuchtete ihre Bürste und schrubbte einen der Drachen sauber. Zwei Jungfüchse schauten ihnen vom Kamin aus interessiert zu.
Als es Zeit zum Abendessen war, war Abraham immer noch nicht zurückgekehrt. Kate und Emma aßen allein in der Küche. Sie erklärten Miss Sallow, dass sie Michael einen Teller nach oben bringen würden. Spätestens auf der Treppe wurde ihnen klar, dass die Leichtigkeit, die sie nach dem Gespräch mit Dr. Pym verspürt hatten, verschwunden war. Sie waren völlig erschöpft und ganz krank vor Sorge.
Es war die zweite Nacht, in der sie versuchten, einzuschlafen,
während sie auf Michaels leeres Bett starrten. Die Geschwister waren noch nie so lange voneinander getrennt gewesen. Morgen, schwor sich Kate, morgen holen wir ihn zurück.
Mitten in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf. Ihr war eingefallen, dass sie nicht nachgesehen hatte, ob das Buch noch da war. Sie stand auf und griff unter die Matratze. Mit klopfendem Herzen tastete sie danach. Dann berührte ihre Hand den Ledereinband. Langsam zog sie das Buch heraus.
Der Mond war aufgegangen. Sein silbriges Licht fiel auf das Bett, verlieh dem smaragdgrünen Einband einen überirdischen
Weitere Kostenlose Bücher