Emerald: Hörspiel
Sessel abgelegt.
»Setzt euch, setzt euch«, hallte seine Stimme hohl den Schornstein hinauf. »Ich bin gleich bei euch.«
Kate und Emma setzten sich jeweils in einen Sessel. Kate fragte sich, ob der Mann eine Ahnung hatte, was er da tat. Stöcke und Zeitungen lagen willkürlich im Kamin verteilt, dazu ein paar Steine, eine leere Limodose und einige alte Teebeutel. Er zündete vergeblich ein Streichholz nach dem anderen an.
»Hat keinen Sinn«, sagte der Mann. Kate hörte, wie er etwas murmelte, und plötzlich flackerte ein fröhliches Feuer im Kamin. »Ja, schon viel besser!«
Emma stieß Kate in die Seite und deutete auf den Mann, als wollte sie sagen: »Siehst du?«
Der Mann stand auf und drehte sich zu ihnen um, wobei er sich den Staub von den Händen klopfte. Er war sehr alt, hatte weiße Haare und dicke Augenbrauen, die wie Hörner abstanden. Das Gestell seiner Brille war verbogen und saß leicht schief auf seiner Nase, als ob er erst kürzlich einen Unfall gehabt hätte. Sein Anzug sah aus, als ob er unter demselben Unfall – und einigen Dutzend weiterer Unfälle – gelitten hätte. »Ein Feuer zu entfachen, ist eine vergessene Kunst. Nicht jeder ist dazu in der
Lage. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Dr. Stanislaus Pym.« Er verbeugte sich sehr tief.
Kate und Emma starrten ihn an. Der Mann sah aus wie ein harmloser, ein wenig tütteliger alter Onkel. Aber trotzdem hatte Kate das Gefühl, dass er ihr merkwürdig vertraut vorkam. Als ob sie ihn schon einmal gesehen hätte. Aber das war ja unmöglich …
Dr. Pym schaute sie seinerseits mit erhobenen Augenbrauen erwartungsvoll an.
»Oh … «, stammelte Kate. »Ich … ähm, ich bin Kate. Und das ist meine Schwester Emma.«
»Und habt ihr auch einen Nachnamen?«
»Nein – ich meine, ja. Irgendwie schon. Er lautet P. Nur dieser eine Buchstabe. Mehr wissen wir nicht.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Ich habe es in euren Akten gelesen. Und ihr habt auch einen Bruder, habe ich recht? Wo ist er denn?«
»Michael fühlt sich nicht besonders gut«, sagte Kate.
Dr. Pym schaute sie an, und Kates Eindruck, einen charmanten, harmlosen alten Mann vor sich zu haben, löste sich in Luft auf. Es fühlte sich so an, als ob er geradewegs bis in ihr Inneres schaute. Aber da lächelte er schon wieder. »Das tut mir leid. Sagt mir Bescheid, wenn ich irgendwie helfen kann. Ich habe noch andere Fähigkeiten, außer Feuer anzuzünden.« Er setzte sich ihnen gegenüber in einen Sessel und fuhr dann fort: »Also, dann legt mal los. Mit eurer Lebensgeschichte, meine ich. Lasst euch Zeit. Ich kann es gar nicht leiden, wenn sich jemand beim Geschichtenerzählen abhetzt. Im Kamin brennt ein schönes Feuer, Miss Sallow kann uns Tee und etwas zum Knabbern bringen. Wir haben überhaupt keine Eile.«
Er zog eine Pfeife aus seiner Westentasche, hielt ein brennendes Zündholz an den Pfeifenkopf, paffte ein paarmal und stieß dann eine mächtige Wolke blaugrünen Rauchs aus. Der Rauch dehnte sich aus, legte sich wie schützende Arme um Kate und Emma. »Fangt an, wann und wo ihr wollt.«
Kate schwieg eine Weile. Sie musste daran denken, wie sie nach ihrem Gespräch mit der Schwanenfrau Miss Crumley belauscht hatte, die am Telefon flehte, drohte, es mit Bestechung versuchte – bloß damit irgendjemand Kate und ihre Geschwister aufnahm. Dann war dieser Mann aus dem Nichts aufgetaucht. Warum? Was wollte er? Sie hatte keinen Zweifel, dass er sie aus einem besonderen Grund hierhergebracht hatte. Aber was für ein Grund war das?
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung, meine Liebe?«
Kate gemahnte sich daran, dass im Augenblick Michaels Rettung ihr Hauptproblem war. Dr. Pym und seine Beweggründe konnten warten. Sie holte tief Luft; der Pfeifentabak roch leicht nach Mandeln.
»Am Heiligen Abend vor zehn Jahren wurden wir in das St.-Mary-Waisenhaus gebracht …« Sie hatte vorgehabt, ein paar trockene Fakten aufzuzählen und sich dann mit der Behauptung, sie müssten nach Michael sehen, zu entschuldigen. Aber etwas Merkwürdiges geschah. Bevor sie es wusste, hörte sie sich selbst dem Doktor ihr Leben in allen Einzelheiten darlegen – oft ergänzt von Emmas Kommentaren. Sie erzählte ihm, wie freundlich Schwester Agatha gewesen war, dass sie aber immer im Bett geraucht und eines Nachts sich selbst und das Waisenhaus in Brand gesteckt hatte, dass das nächste Waisenhaus, in dem sie landeten, von einem sehr dicken Mann geführt wurde, der das ganze gute Essen, das für die Kinder bestimmt
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