Emil oder Ueber die Erziehung
Bucheckern, Nüsse oder Eicheln gefunden, so tanzten wir freudetrunken unter dem Klange unserer rohen Gesänge um eine Eiche oder Buche herum und nannten die Erde unsere Ernährerin und unsere Mutter. Das war unser einziges Fest, das waren unsere einzigen Spiele. Unser ganzes sonstiges Leben war Schmerz, Mühe und Elend.«
»Als uns endlich das entblößte und kahle Land gar nichts mehr darbot, wurden wir gezwungen, zu unserer Erhaltung die Natur zu verletzen und die Genossen unseres Elends lieber zu verzehren, als mit ihnen zu Grundezu gehen. Aber ihr, grausame Menschen, wer zwingt euch Blut zu vergießen? Seht, welch ein Ueberfluß an Gütern euch umgibt! Welche Fülle von Früchten erzeugt die Erde für euch! Welche Reichthümer bieten euch eure Felder und Weinberge dar! Wie viel Thiere ernähren euch mit ihrer Milch und kleiden euch mit ihrer Wolle! Was verlangt ihr noch mehr von ihnen? Welche Wuth treibt euch, trotzdem ihr mit Gütern überschüttet und von einer Ueberfülle von Lebensmitteln umringt seid, so viele Mordthaten zu begehen? Warum klaget ihr eure Mutter lügnerischer Weise an, daß sie euch nicht zu ernähren vermöge? Warum versündiget ihr euch an Ceres, der Erfinderin der heiligen Gesetze, und an dem freundlichen Bacchus, dem Tröster der Menschen? Als ob ihre verschwenderischen Gaben zur Erhaltung des menschlichen Geschlechtes nicht hinreichend wären! Woher nehmet ihr nur das Herz, außer mit ihren süßen Früchten eure Tische auch noch mit den Gebeinen der Thiere zu beladen, und mit der Milch zugleich das Blut der Thiere zu trinken, die sie euch geben? Panther und Löwen, die ihr Raubthiere nennt, folgen gezwungen ihrem Instincte und tödten andere Thiere, um zu leben. Allein ihr, die ihr in Wahrheit hundertmal wilder seid als jene, bekämpfet ohne Noth den Instinct, um euch euren grausamen Lüsten zu überlassen. Die Thiere, welche ihr esset, gehören nicht zu denjenigen, die sich von anderen nähren; ihr verzehret nicht die fleischfressenden Thiere, sondern ahmet ihnen nach. Ihr seid nur nach unschuldigen und sanften Thieren lüstern, die Niemandem ein Leid zufügen, die sich voller Anhänglichkeit an euch schließen, die euch dienen und die ihr dann zum Lohne für ihre Dienste verschlinget.«
»O, unnatürlicher Mörder! Wenn du wirklich an der Ueberzeugung hartnäckig festhältst, daß dich die Natur dazu geschaffen habe, Deinesgleichen, Wesen von Fleisch und Bein, voller Empfindung und Leben wie du, zu verzehren: nun, dann ersticke auch das Grauen, daß sie dir vor solchen gräßlichen Mahlzeiten einflößt, tödte die Thiere selber und zwar mit deinen eigenen Händen, ohne Eisen und Messer; zerreiße sie mit deinen Nägeln, wie du es bei denLöwen und Bären siehst; greife den Stier mit deinen Zähnen an und zerfleische ihn; schlage deine Krallen in seine Haut; friß dieses Lamm noch lebendig, verschlinge sein Fleisch, wenn es noch warm ist und trinke seine Seele mit seinem Blute. Du zitterst, du wagst nicht, das noch lebende Fleisch unter deinem Zahne zucken zu fühlen! Erbärmliches Wesen! Erst tödtest du das Thier und dann ißt du es, um es gleichsam zweimal sterben zu lassen! Noch nicht genug! Das todte Fleisch erregt noch deinen Widerwillen, deine Eingeweide können es nicht vertragen. Du mußt es erst durch das Feuer verwandeln, mußt es kochen, braten und mit allerlei Kräutern würzen, die seinen Geschmack verdecken. Du bedarfst erst der Fleischwaarenhändler, der Köche und Garköche, kurz solcher Leute, die dem Getödteten das Schreckenhafte benehmen und die todten Körper so umhüllen, daß der durch diese Zubereitung getäuschte Geschmackssinn das nicht zurückweise, was ihm ungewöhnlich und abstoßend ist und sich mit Vergnügen an Leichnamen labe, deren bloßen Anblick das Auge kaum zu ertragen vermöchte.«
Obgleich diese Stelle nicht völlig zu meinem Gegenstande gehört, so habe ich doch der Versuchung nicht widerstehen können, sie abzuschreiben, und bin ich überzeugt, daß nur wenige Leser es mir nicht Dank wissen werden.
Welche Lebensordnung ihr übrigens für eure Kinder auch einführen möget, wobei ich freilich voraussetze, daß ihr sie nur an gewöhnliche und einfache Kost gewöhnt, laßt sie essen, sich umhertummeln und spielen, so viel es ihnen gefällt; dann könnt ihr versichert sein, daß sie niemals zu viel essen und niemals an Verdauungsbeschwerden leiden werden. Laßt ihr sie aber die halbe Zeit hungern und finden sie dann Mittel, sich eurer
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