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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ist, wird ihn sein Gaumen schwerlich noch beschäftigen. Sobald es erwachsen ist, werden tausend stürmische Gefühle die Lebhaftigkeit mit einem Male verscheuchen und erst die Eitelkeit recht anstacheln, denn letztere Leidenschaft zieht allein von allen anderen Gewinn und verschlingt sie endlich alle. Ich habe bisweilen solche Leute, denen gute Bissen über Alles gingen, die schon beim Erwachen an nichts als an die Tafelgenüsse im Laufe des Tages dachten und eine Mahlzeit mit größerer Genauigkeit beschrieben als Polybius ein Gefecht, genau beobachtet und dabei stets gefunden, daß alle diese angeblichen Männer nichts weiter als vierzigjährige Kinder ohne Kraft und Festigkeit waren, fruges consumere nati. [37] Das Laster der Gefräßigkeit kann nur bei solchen vorkommen, denen aller geistiger Gehalt abgeht. Die Seele des Feinschmeckers ist mit seinem Gaumen identisch, die Schöpfung hat ihn nur zum Essen bestimmt. In seiner beschränkten Unfähigkeit ist er nur bei Tische an seinem Platze; sein Urtheil geht über die Schüsseln nicht hinaus. Gönnen wir ihm diese Rolle im Leben; er führt sie besser durch als eine andere, besser für uns und für sich.
    Es verräth große Unerfahrenheit, wenn man sich der Besorgniß hingibt, daß die Leckerhaftigkeit bei einem befähigten Kinde einwurzeln könne. In der Kindheit denkt man freilich nur an die Speise, die man ißt, im Jünglingsalter nehmen indeß die Gedanken eine andere Richtung; da sind alle Speisen gleich gut, da ist man von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Fern liegt mir indeß der Gedanke, daß man eine so niedrige Triebfeder in unverständiger Weise in Anwendung bringen oder zu der Ehre, eine gute Handlung zu vollbringen, durch einen guten Bissen anspornen solle. Da aber einmal die ganze Kindheit nur Scherz und Spiel ist und sein soll, so sehe ich auch nicht ein, weshalb man nicht auf rein körperliche Uebungen einen materiellen und für den Genußbestimmten Preis setzen dürfte. Wenn ein Knabe auf Majorka im Gipfel eines Baumes einen Korb hängen sieht und ihn mit seiner Schleuder herabwirft, ist es dann nicht mehr als billig, daß er davon einen Vortheil habe, und ihm ein gutes Frühstück die Kraft wieder ersetze, die er zur Erlangung des Korbes hat anwenden müssen? [38]
    Wenn sich ein spartanischer Knabe auf die Gefahr hin, hundert Peitschenhiebe zu erhalten, gewandt in eine Küche schleicht, einen lebendigen jungen Fuchs stiehlt, ihn unter seinem Gewände davonträgt, trotzdem er zerkratzt, zerbissen und mit Blut überströmt wird, wenn er sich sogar, um sich nicht der Schande der Entdeckung auszusetzen, die Eingeweide zerreißen läßt, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, ohne einen einzigen Schrei auszustoßen, ist es dann nicht billig, daß er das schwer Erbeutete zu seinem Nutzen verwende und es verzehre, nachdem er von demselben beinahe selbst verzehrt worden ist? Niemals darf eine gute Mahlzeit als eine Belohnung gelten; weshalb sollte sie aber nicht mitunter die Frucht der Mühe sein, der man sich zu ihrer Erlangung hat unterziehen müssen? Emil sieht in dem Kuchen, den ich auf den Stein gelegt habe, nicht eine Belohnung für seinen Schnelllauf; sondern er ist sich nur dessen bewußt, daß das einzige Mittel, den Kuchen zu erhalten, darin besteht, schneller als ein Anderer das Ziel zu erreichen.
    Dies widerspricht keineswegs den Grundsätzen, die ich vorhin über die Einfachheit der Speisen ausgesprochen habe; denn bei Befriedigung des Appetits der Kinder handelt es sich nicht um Erregung ihrer Sinnlichkeit, sondern um Stillung eines Naturtriebes, und dies läßt sich durch die gewöhnlichsten Mittel von der Welt erzielen, wenn man nicht absichtlich auf die Verwöhnung ihres Gaumens ausgeht. Ihr durch stetes Wachsthum erregter Appetit ist für sie eine sichere Würze, die ihnen viele andere ersetzt. Obst, Milchspeisen, irgend eine Backwaare, die dasgewöhnliche Brod an Wohlgeschmack übertrifft, in Verbindung mit der Kunst, dies Alles sparsam zu vertheilen, reichen vollkommen aus, Heere von Kindern bis ans Ende der Welt zu führen, ohne daß man ihnen Geschmack an gaumkitzelnden Speisen einflößt oder Gefahr läuft, ihren Gaumen abzustumpfen.
    Zu den Beweisen, daß der Geschmack an Fleisch dem Menschen nicht natürlich ist, gehört die Gleichgültigkeit der Kinder gegen alle Fleischspeisen, so wie die Vorliebe, welche sie für vegetabilische Kost, wie Milchspeisen, Gebackenes, Obst u. s. w. an den Tag legen. Es muß nun vor allen

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