Emil oder Ueber die Erziehung
Folgerung hat auch durch die Erfahrung ihre vollständige Bestätigung gefunden; es ist eine anerkannte Thatsache, daß dieser Sinn bei der Mehrzahl der Kinder noch schwach, ja fast völlig stumpf ist. Nicht etwa als ob bei ihnen die Empfindung nicht eben so fein, ja vielleicht noch feiner als bei den Erwachsenen wäre; sondern weil sie aus dem Grunde, daß sie noch keine andere Ideen damit verbinden, weder freudig noch schmerzlich afficirt werden und sich mithin auch nicht wie wir angenehm erregt oder verletzt fühlen können. Ich bin überzeugt, daß man bei strenger Festhaltung dieses Systems nicht erst nöthig hat, zu der vergleichenden Anatomie der beiden Geschlechter seine Zuflucht zu nehmen, um mit Leichtigkeit den Grund aufzufinden, weshalb die Frauen von den Gerüchen im Allgemeinen lebhafter als die Männer afficirt werden.
Man behauptet, die Wilden Canadas bilden von ihrer frühesten Jugend auf ihren Geruch bis zu dem Grade von Feinheit aus, daß sie, obgleich sie Hunde besitzen, es unter ihrer Würde halten, sich derselben auf der Jagd zu bedienen, weil sie eine eben so große Spürkraft haben. Es ist mir in der That einleuchtend, daß man, hielte man die Kinder dazu an, ihre Mahlzeit eben so aufzuspüren, wie der Hund das Wild, es vielleicht dahin bringen könnte, ihren Geruch in gleicher Weise zu vervollkommnen; aber im Grunde genommen sehe ich auch nicht ein, welchen in die Augen fallenden Vortheil ihnen dieser Sinn verschaffen könnte, wenn es nicht etwa der wäre, daß er ihnen seine Beziehungen zum Geschmackssinne nachwiese. Die Natur hat schon dafür gesorgt, daß wir uns gezwungen sehen, uns mit diesen Beziehungen vertraut zu machen. Sie hat die Thätigkeit beider Sinne fast unzertrennlich mit einander verbunden, indem sie ihre Organe zu Nachbarn machte und im Munde eine unmittelbare Verbindung beider in der Art herstellte, daß wir nichts schmecken, ohnees gleichzeitig zu riechen. Ich wünschte nur, daß man diese natürlichen Beziehungen nicht aufhöbe, um ein Kind zu hintergehen, indem man es beispielsweise durch ein angenehmes Arom über den schlechten Geschmack einer Arzenei zu täuschen suchte, denn der Zwiespalt zwischen den Eindrücken der beiden Sinne ist viel zu groß, als daß es sich alsdann noch hinter das Licht führen ließe. Da der thätigste Sinn die Wirkung des andern aufhebt, so nimmt es die Arzenei keineswegs mit geringerem Widerwillen. Dieser Widerwille erstreckt sich auch auf alle Eindrücke, welche gleichzeitig auf dasselbe ausgeübt werden. So oft nun der schwächste von ihnen wiederkehrt, ruft ihm seine Phantasie auch die anderen zurück; selbst der angenehmste Duft verwandelt sich nun für ihn in einen widerlichen Geruch, und auf diese Weise vergrößern gerade unsere unüberlegten Vorsichtsmaßregeln die Summen der widerlichen Eindrücke auf Kosten der angenehmen.
Es bleibt mir nun noch übrig, in den folgenden Büchern von der Pflege einer Art sechsten Sinnes zu reden, der gewöhnlich der Gemeinsinn (sens commun, sensus communis) genannt wird, weniger wol deshalb, weil er allen Menschen gemeinsam ist, als vielmehr aus dem Grunde, weil er aus dem richtig geordneten Gebrauche der übrigen Sinne entsteht und uns über die Natur der Dinge durch die Gesammtauffassung aller ihrer einzelnen Erscheinungen belehrt. Diesem sechsten Sinne fehlt in Folge dessen ein besonderes Organ, er zeigt sich nur im Gehirne, und die rein innerlichen Wahrnehmungen desselben werden Vorstellungen oder Ideen genannt. Nach der Zahl dieser Ideen läßt sich der Umfang unserer Kenntnisse feststellen. Ihre Deutlichkeit und Klarheit läßt die Schärfe des Verstandes erkennen; die Kunst, sie unter einander zu vergleichen, nennt man die menschliche Vernunft. Folglich besteht das, was ich sensitive oder kindliche Vernunft nenne, in der Bildung einfacher Ideen durch Zusammenfassung mehrerer Eindrücke; während das, was ich intellectuelle oder menschliche Vernunft nenne, in der Bildung zusammengesetzter Ideen durch Zusammenfassung mehrerer einfacher besteht.
Setzen wir also voraus, daß meine Methode die der Natur sei und ich mich in ihrer Anwendung nicht geirrt habe, so haben wir unseren Zögling nun durch das Land der sinnlichen Wahrnehmungen bis an die Grenzen der kindlichen Vernunft geführt; der erste Schritt darüber hinaus muß ein Mannesschritt sein. Bevor wir uns jedoch mit diesem neuen Wege beschäftigen, laßt uns noch einen Augenblick auf den zurückschauen, den wir bis hierher zurückgelegt
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