Emil oder Ueber die Erziehung
den Sinn kommen, Wein zu trinken, wenn man ihn uns nicht schon in jungen Jahren gegeben hätte. Je einfacher unser Geschmack ist, desto allgemeiner ist er; zusammengesetzte Speisen erregen am häufigsten und am allgemeinsten Widerwillen. Sieht man wol je, daß sich Jemand von Wasser oder Brod angeekelt fühlt? Darin liegt ein unverkennbarer Wink der Natur, darin ist auch uns eine Richtschnur vorgezeichnet. Laßt uns deshalb dem Kinde seinen ursprünglichen Geschmack so lange als möglich erhalten; seine Nahrung sei einfach und natürlich, sein Gaumen gewöhne sich nur an wenig gewürzte Speisen und bilde sich keinen besonderen Geschmack.
Ich will hier nicht erst untersuchen, ob diese Lebensart gesunder ist oder nicht; das gehört nicht zu der Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Um ihr den Vorzug zu geben, ist für mich die Ueberzeugung hinreichend, daß sie die naturgemäßeste ist und sich jeder andern am leichtesten anzubequemen vermag. Diejenigen, welche behaupten, man müsse die Kinder an solche Nahrung gewöhnen, welche sie später als Erwachsene genießen werden, gehen meinem Dafürhalten nach von einer falschen Voraussetzung aus. Weshalb soll ihre Nahrung die gleiche sein, während sich in ihrer Lebensweise so große Verschiedenheiten zeigen? Ein von Arbeit, Sorgen und Anstrengungen erschöpfter Mann bedarf nahrhafter Speisen, die seinem Gehirn neuen Lebensgeist zuführen; ein Kind indeß, welches sich nur fröhlich umhertummelt und dessen Körper noch einem steten Wachsthum unterworfen ist, verlangt eine reichliche Nahrung, aus dem es unaufhörlich Nahrungssaft ziehen kann. Außerdem hat der völlig ausgebildete Mann bereits seine Stellung, seinen Beruf, seinen festen Wohnsitz; wer aber will mit Sicherheit voraussehen, was das Schicksal dem Kinde aufgespart hat? Nach keiner Richtung hin dürfen wir Letzterem eine so ausgeprägte Form geben, daß es für dasselbe mit zu großer Mühe verbunden ist, sie nach Bedürfniß zu ändern. Laßt uns nicht die Schuld tragen, daß es in fremden Ländern Hungers sterbe, wenn es nicht in seinem Gefolge überallhin einen französischen Koch mitsich schleppt, oder daß es eines Tages versichere, man verstehe nur in Frankreich zu essen. Beiläufig gesagt, wirklich ein schmeichelhaftes Lob! Ich meinerseits möchte gerade umgekehrt sagen, daß die Franzosen allein nicht zu essen verstehen, da es erst einer ganz besonderen Kunst bedarf, ihnen die Speisen schmackhaft zu machen.
Unter unsern verschiedenen Sinneswahrnehmungen berühren uns die, welche sich auf den Geschmack beziehen, im Allgemeinen am unmittelbarsten. Auch muß uns ungleich mehr daran gelegen sein, uns über diejenigen Substanzen, die in unsern eigenen Körper übergehen sollen, ein richtiges Urtheil zu bilden, als über solche, die sich nur in unserer Umgebung befinden. Tausenderlei Dinge sind dem Gefühle, dem Gehöre und dem Gesichte gleichgiltig, während es für den Geschmack fast nichts Gleichgiltiges gibt. Ferner ist die Thätigkeit dieses Sinnes eine rein physische und materielle. Er ist der einzige, welcher die Einbildungskraft niemals erregt, wenigstens derjenige, an dessen Wahrnehmungen sie am wenigsten betheiligt ist. Wie oft findet man dagegen, daß die Nachahmung und die Einbildungskraft den Eindrücken aller übrigen etwas Geistiges beimischen! Auch sind weichliche und wollüstige Herzen, leidenschaftliche und wirklich reizbare Charaktere, die sich durch die übrigen Sinne leicht erregen lassen, gewöhnlich wenig geneigt, diesem zu huldigen. Aber gerade aus dieser Erfahrung, die den Geschmack unter die übrigen Sinne zu stellen scheint und die Neigung, ihm zu fröhnen, so verächtlich macht, möchte ich den Schluß ziehen, daß es sich als das zweckmäßigste Mittel empfiehlt, die Kinder durch die Bedürfnisse ihres Mundes zu leiten und zu regieren. Will man einmal eine äußere Triebfeder in Anwendung bringen, so will ich mich immer noch lieber auf die Leckerhaftigkeit als auf die Eitelkeit stützen, da erstere ein natürlicher Trieb ist, der es nur mit dem Sinne selber zu thun hat, letztere jedoch ein Erzeugniß der Einbildungskraft, welches den Launen der Menschen und jeglichem Mißbrauche unterworfen ist. Leckerhaftigkeit ist die Leidenschaft der Kindheit, die verschwindet, sobald sich andere zeigen; sie vermag keiner Concurrenz gegenüber Stand zu halten. Ja,glaubt es mir, das Kind wird nur zu früh aufhören, an das, was es genießt, zu denken, und wenn sein Herz erst allzu sehr beschäftigt
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