Emil oder Ueber die Erziehung
Wachsamkeit zu entziehen, so werden sie sich aus allen Kräften schadlos zu halten suchen; sie werden essen, bis sie sich den Magen überladen haben, ja bis zum Platzen. Unser Appetit verleitet uns nur deshalb zur Unmäßigkeit, weil wir ihm andere Regeln als die der Natur aufzwingen wollen. Indem wir fortwährend regeln, vorschreiben, hinzufügen oder wegnehmen, thun wir nichts, ohne schon vorher abzuwägen,wie viel unser Magen zu vertragen vermag; aber wir wägen es nach unserer Einbildung und nicht nach den Anforderungen unseres Magens ab. Ich komme immer wieder auf meine Beispiele zurück. Bei den Landleuten stehen der Brodschrank und der Obstgarten immerwährend offen, und doch wissen dort die Kinder eben so wenig wie die Erwachsenen, was ein verdorbener Magen ist.
Sollte es jedoch wirklich einmal vorkommen, daß ein Kind zu viel äße, was ich übrigens bei Befolgung meiner Methode geradezu für unmöglich halte, so ist es durch Belustigungen, die seinem Geschmacke zusagen, so leicht zu zerstreuen, daß man es bis zur Erschöpfung hungern lassen könnte, ohne daß es ans Essen dächte. Wie ist es nur möglich, daß so sichere und zugleich so leichte Mittel allen Lehrern entgehen können! Herodot erzählt im 94. Kapitel des ersten Buches, daß die Lydier zur Zeit einer anhaltenden Hungersnoth auf den Einfall gerathen seien, Spiele und anderen Zeitvertreib zu erfinden, bei welchen sie ihren Hunger vergessen und ganze Tage zugebracht hätten, ohne an das Essen zu denken. [42] Eure gelehrten Erzieher haben diese Stelle vielleicht schon hundertmal gelesen, ohne zu begreifen, wie gut sie auf die Kinder angewandt werden kann. Vielleicht wird mir der Eine oder der Andere derselben den Einwand machen, daß kein Kind gern sein Mittagbrod verläßt, um seine Lection zu lernen. Ja, mein bester Lehrer, du hast vollkommen recht: an diese Belustigung hatte ich freilich nicht gedacht.
Der Geruchssinn ist für den Geschmack, was das Gesicht für das Gefühl ist. Er kommt ihm zuvor, macht ihn darauf aufmerksam, wie diese oder jene Substanz aufihn wirken werde und bewegt ihn, dieselbe je nach dem Eindrucke, den er schon im Voraus empfängt, zu suchen oder zu meiden. Ich habe mir erzählen lassen, daß der Geruchssinn der Wilden in ganz anderer Weise als der unserige afficirt werde, und das Urtheil derselben über angenehme und unangenehme Gerüche von dem unserigen wesentlich abweiche. Ich meines Theils bin sehr geneigt, es zu glauben. Die Gerüche an und für sich bringen nur schwache Eindrücke hervor; sie reizen mehr die Einbildungskraft als den Sinn, und afficiren nicht sowol durch das, was sie wirklich gewähren, als vielmehr durch die Erwartung, die sie rege machen. Ist diese Voraussetzung gegründet, so werden auch die Menschen, deren Geschmack in Folge ihrer verschiedenen Lebensweise von dem anderer Menschen abweicht, ebenfalls über die Gerüche, welche den Geschmack ankündigen, ganz entgegengesetzte Urtheile fällen müssen. Ein Tartar muß ein stinkendes Pferdeviertel mit eben so großem Genuß riechen wie einer unserer Jäger ein halbverfaultes Rebhuhn.
Rein äußerliche Sinneseindrücke, wie sie z. B. von dem Wohlgeruche eines Blumenbeetes ausgehen, müssen sich solchen Menschen, die viel zu viel laufen; um an dem Spazierengehen noch Freude zu haben, oder solchen, die nicht genug arbeiten, um die Süßigkeit der Ruhe empfinden zu können, kaum bemerkbar machen. Leute, die fortwährend hungrig wären, könnten an Wohlgerüchen, welche keine Speise ankündigten, schwerlich ein großes Vergnügen finden.
Der Geruch ist der Sinn der Phantasie; da er den Nerven eine größere Kraft verleiht, so muß er auch das Gehirn lebhaft erregen. Diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß er zwar für einen Augenblick belebt, aber auf die Länge erschöpft. Seine Wirkungen in der Liebe sind allgemein bekannt. Der süße Duft eines Toilettenzimmers ist keine so schwache Schlinge, wie man annimmt, und ich weiß nicht, ob man den weisen Mann, der so wenig empfänglich ist, daß ihm der Geruch der Blumen, die seine Geliebte am Busen trägt, niemals in Wallung brachte, beglückwünschen oder beklagen muß.
Der Geruch darf deshalb im ersten Lebensalter, wodie bisher erst von wenigen Leidenschaften belebte Phantasie kaum für eine Erregung empfänglich ist und wo man noch nicht genügende Erfahrung besitzt, um vermittelst des einen Sinnes das voraussehen zu können, was uns ein anderer verspricht, nicht sehr thätig sein. Diese
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