Emil oder Ueber die Erziehung
haben. Jedes Alter, jeder Zustand des Lebens hat eine Vollkommenheit, die nur ihm entspricht, eine Art Reife, die nur ihm eigenthümlich ist. Wir haben oft von einem »fertigen« Manne reden hören; aber laßt uns nun auch einmal ein »fertiges« Kind betrachten. Dieses wird uns neuer und vielleicht nicht weniger angenehm sein.
Das Dasein aller endlichen Wesen ist so arm und so beschränkt, daß wir, sobald wir nur das, was ist, ins Auge fassen, niemals innerlich bewegt werden. Unsere Phantasie zeigt uns die Gegenstände in einer schöneren Gestalt, als sie in Wirklichkeit haben, und wenn sie dem, was auf uns einwirkt, nicht einen Reiz verleiht, so beschränkt sich das geringe Vergnügen, welches uns daraus bereitet wird, auf das Organ und läßt das Herz dabei fortwährend kalt. Wenn die Erde mit den Schätzen des Herbstes geschmückt ist, breitet sie einen Reichthum vor uns aus, den unser Auge bewundern muß, aber diese Bewunderung vermag uns nicht innerlich zu bewegen, sie hat ihre Quelle mehr in der Reflexion als in dem Gefühl. Im Frühling dagegen, wo das kahle Feld fast noch jedes Schmuckes entbehrt, wo die Wälder noch keinen Schatten darbieten und das Grün erst hervorzusprossen beginnt, wird das Herz beim Anblick der Natur ergriffen. Wenn man sieht, wie die Natur wieder erwacht, fühlt man sich selbst wieder neu belebt. Ein Bild der Freude umgibt uns. Die Begleiterinnen jeglicher Lust, die süßen Thränen, die stets bereit sind, sich mit jedem Wonnegefühle zu vereinen, hängen schon an unsern Wimpern. Mag der Anblick der Weinlese indeß noch so belebt, noch so fröhlich und angenehm sein, so wird man sich ihm doch stets mit trockenem Auge hingeben können.
Woher rührt dieser Unterschied? Daher, daß zu dem Anblicke des Frühlings die Phantasie noch den der darauf folgenden Jahreszeiten hinzufügt. Mit den zarten Knospen, welche sich dem Auge darbieten, verbindet sie sofort die Blüten, die Früchte, die Schatten, mitunter auch wol die Geheimnisse, die letztere bedecken. In einem einzigen Momente vereinigt sie Zeiten, die erst auf einander folgen sollen, und steht die Gegenstände weniger, wie sie wirklich sein werden, als wie sie dieselben wünscht, weil es lediglich von ihr abhängt, sie zu wählen. Im Herbste kann man dagegen über das, was vorhanden ist, nicht weiter hinausblicken. Will uns die Phantasie etwa das Bild des Frühlings vorgaukeln, so tritt uns der Winter hemmend entgegen, und die erstarrte Einbildungskraft erstirbt im Schnee und Reif.
Deshalb hat es auch für uns einen ungleich größeren Reiz, eine schöne Jugend als die Vollkommenheit des reifen Alters zu betrachten. Wann bereitet uns eigentlich der Anblick eines Menschen ein wirkliches Vergnügen? Dann, wenn die Erinnerung an seine Handlungen sein ganzes Leben an unseren Augen vorüberführt und ihn vor uns gleichsam verjüngt. Sehen wir uns dagegen genöthigt, ihn in dem Zustande zu betrachten, in welchem er gerade ist, oder ihn uns etwa gar so vorzustellen, wie er im Alter sein wird, so vernichtet die Vorstellung seiner sich ihrem Ende zuneigenden Natur unsere ganze Freude. Der Anblick eines Menschen, der schnellen Schrittes seinem Grabe zueilt, vermag keine freudige Erregung in uns hervorzurufen, denn das Bild des Todes gibt Allem einen häßlichen Anstrich.
Stelle ich mir nun aber ein zehn- oder zwölfjähriges gesundes, kräftiges und für sein Alter wohlgestaltetes Kind vor, so ruft dasselbe keinen Gedanken in mir wach, der nicht angenehm wäre, gleichviel, ob er auf die Gegenwart oder auf die Zukunft gerichtet ist. Ich sehe es aufbrausend, lebhaft, munter, sorglos, ohne lange und peinliche Voraussicht, nur für die Gegenwart lebend und im Genusse einer Lebensfülle, die auch auf seine ganze Umgebung scheint übergehen zu wollen. Ich stelle es mir dann ineinem etwas höheren Lebensalter vor und sehe schon voraus, wie es seine Sinne, seinen Geist und seine Kräfte üben wird, die sich in ihm von Tage zu Tage mehr entfalten und von denen es jeden Augenblick neue Beweise liefert. Ich betrachte es als Kind und es erwirbt sich mein ganzes Wohlgefallen; ich stelle es mir als Mann vor, und mein Wohlgefallen steigert sich noch. Sein heißes Blut scheint mein eigenes wieder zu erwärmen; es kommt mir vor, als ob von seinem Leben neues Leben auf mich überströmte, und sein lebhaftes Wesen macht mich wieder jung.
Die Stunde ist abgelaufen, die Glocke schlägt; welche Veränderung! Augenblicklich trübt sich sein Blick, seine
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