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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Dingen darauf Gewicht gelegt werden, diesen ursprünglichen Geschmack nicht in andere Bahnen zu lenken und die Kinder nicht zu Fleischessern zu machen, denn wenn auch ihre Gesundheit nicht darunter leiden sollte, so wäre es doch mit Rücksicht auf ihre Charakterbildung bedenklich. Denn wie man auch immer diese Erfahrung erklären mag, so steht doch so viel fest, daß die starken Fleischesser im Allgemeinen grausamer und wilder als andere Menschen sind. Die englische Barbarei ist bekannt. [39] Die persischen Feueranbeter, die Gebern, sind dagegen die sanftesten Menschen. [40]
    Alle Wilden sind grausam; aber nicht ihre Sitten tragen die Schuld, sondern ihre Grausamkeit ist lediglich die Folge ihrer Nahrungsmittel. Sie ziehen in den Krieg, als ginge es auf die Jagd, und treten gegen die Menschen auf, als hätten sie Bären vor sich. In England dürfen sogar die Schlächter, und selbst die Wundärzte, nicht als Zeugen zugelassen werden. [41]
    Große Bösewichterhärten sich durch den Genuß von Blut zum Morden ab. Homer schildert die Cyklopen, die Fleischesser waren, als entsetzliche Menschen, die Lotophagen dagegen als ein so liebenswürdiges Volk, daß man, sobald man mit ihnen in Verkehr getreten war, sogar sein eigenes Vaterland vergaß und nur den Wunsch hatte, unter ihnen leben zu können.

    »Du fragst mich,« sagt Plutarch, »weshalb sich Pythagoras des Genusses der Fleischspeisen enthielt. Aber ich frage dich statt dessen, welchen Muth der erste Mensch besessen haben muß, der Fleisch von einem gemordeten Thiere an seinen Mund brachte, der mit seinen Zähnen die Knochen eines so eben erst gestorbenen Thieres zermalmte, der sich todte Körper, Leichen, zum Genusse vorsetzen ließ und Glieder von Geschöpfen in seinen Magen hinabschlang, die noch einen Augenblick zuvor geblökt, gebrüllt, gesehen hatten und umhergesprungen waren. Wie vermochte seine Hand nur einem empfindenden Wesen ein Eisen in das Herz zu stoßen? Wie waren seine Augen im Stande, den Anblick eines Mordes auszuhalten? Wie konnte er ein armes wehrloses Thier schlachten, abhäuten und zerstückeln sehen? Wie vermochte er den Anblick noch zuckenden Fleisches zu ertragen? Wie war es nur möglich, daß ihm nicht schon der bloße Geruch desselben Uebelkeit erregte? Wie ging es zu, daß er sich nicht angeekelt, zurückgestoßen und von Schauder ergriffen fühlte, wenn er den Schmutz dieser Wunden berührte und sie von dem schwarzen geronnenen Blute, mit dem sie bedeckt waren, reinigte?«
    »Am Boden wand sich noch die abgestreifte Haut,
    Beim Feuer brüllt am Spieß das blut’ge Fleisch noch laut;
    Nicht ohne Schaudern kann der Mensch der Eßlust fröhnen,
    Denn deutlich hört er noch aus seinem Schooß es stöhnen.«
    »Ja, das mußte er denken und empfinden, als er zum ersten Male seine Natur überwand, dieses entsetzliche Mahl herzurichten, als ihn zum ersten Male nach einem lebendenWesen gelüstete, als er sich von einem Thiere, das noch harmlos weidete, zu nähren verlangte, und der Gedanke in ihm aufstieg, wie er das Schaf, das ihm die Hand leckte, erwürgen, zerschneiden und kochen könnte. Ueber diejenigen müssen wir uns gerechter Weise wundern, die mit solchen grausamen Mahlzeiten den Anfang gemacht haben, aber wahrlich nicht über diejenigen, welche sich derselben enthalten; und doch vermöchten erstere ihre Barbarei wenigstens einigermaßen durch Gründe zu entschuldigen, auf welche wir uns nicht mehr stützen können, und gerade deshalb sind wir noch hundertmal größere Barbaren als sie.«
    »Ihr sterblichen Lieblinge der Götter, würden jene ersten Menschen uns zurufen, vergleichet einmal die Zeiten; erwäget, wie glücklich ihr seid und wie elend wir waren! Die noch jungfräuliche Erde und die mit Dünsten erfüllte Luft entzogen sich noch dem Einflusse der Jahreszeiten; der ungeregelte Lauf der Flüsse durchbrach die Ufer nach allen Richtungen hin; Teiche, Seeen, tiefe Moräste nahmen drei Viertheile der Erdoberfläche ein; das letzte Viertel war mit Gehölz und unfruchtbaren Wäldern bedeckt. Noch brachte die Erde keine wohlschmeckenden Früchte hervor, noch hatten wir keine Ackergeräthschaften und verstanden auch die Kunst nicht, uns ihrer zu bedienen, und keine Erntezeit brach für uns, die wir nicht gesäet hatten, heran. Deshalb wurden wir stets vom Hunger gefoltert. Moos und Baumrinde bildeten im Winter unsere gewöhnliche Speise. Frische Quecken- und Heidekrautwurzeln waren ein Festschmaus für uns, und hatten wir sogar

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