Emil oder Ueber die Erziehung
welchen ein unter dem Tische verborgenes Kind unbemerkt hin und her bewegte.
Der Mann steckt seine Maschine wieder ein, und nachdem wir ihm unsern Dank und unsere Entschuldigungen ausgesprochen haben, wollen wir ihm ein Geschenk einhändigen. Er lehnt es ab. »Nein, meine Herren, Sie haben sich mir gegenüber nicht so tadelfrei gezeigt, daß ich Geschenke von Ihnen annehmen könnte. Sie sollen sich mir wider Ihren Willen verpflichtet fühlen; das sei meine einzige Rache. Mögen Sie daraus lernen, daß es in allen Ständen Edelmuth gibt. Ich lasse mir wol meine Kunststücke bezahlen, nicht aber die Lectionen, die ich ertheile.«
Beim Weggehen wendet er sich noch direct an mich und ertheilt mir ganz laut einen Verweis. »Gern,« sagt er, »will ich dieses Kind entschuldigen; es hat nur aus Unwissenheit gefehlt. Sie jedoch, mein Herr, der Sie seinen Fehler einsehen mußten, weshalb haben Sie ihn denselben begehen lassen. Da Sie zusammen leben, so liegt Ihnen, als dem Aelteren, die Pflicht ob, ihm mit Rath und That zur Seite zu stehen. Ihre Erfahrung muß ihm als Autorität gelten, so daß es sich durch dieselbe leiten läßt. Sollte es sich dereinst, wenn es erwachsen ist, über seine Jugendfehler Vorwürfe machen, so wird es unzweifelhaft die Schuld derer, auf welche Sie es nicht aufmerksam gemacht haben, Ihnen zuschieben.« [2]
Er geht und läßt uns Beide in größter Bestürzung zurück. Ich tadle mich meiner weichlichen Nachgibigkeit willen, ich gelobe dem Kinde, dieselbe ein anderes Mal seinem Besten zum Opfer bringen zu wollen und es vor seinen Fehlern zu warnen, bevor es dieselben begehe. Denn nun nähert sich die Zeit, wo in unseren gegenseitigen Verhältnissen eine Aenderung eintreten und der Ernst des Lehrers an die Stelle der kameradschaftlichen Nachgibigkeit treten muß. Diese Veränderung darf nur stufenweise vor sich gehen. Alles muß man voraussehen, und zwar schon aus weiter Ferne voraussehen.
Am nächsten Tage begeben wir uns abermals auf den Jahrmarkt, um uns das Kunststück, dessen Geheimniß wir erfahren haben, noch einmal anzusehen. Mit tiefer Ehrfurcht nähern wir uns dem Sokrates der Taschenspieler; kaum wagen wir die Augen zu ihm aufzuschlagen. Er überhäuft uns jedoch mit Artigkeiten und weist uns unsern Platz in so auszeichnender Weise an, daß wir uns nur noch mehr gedemüthigt fühlen. Darauf macht er seine Kunststücke wie gewöhnlich, nur verweilt er mit offenbarem Vergnügen bei der Ente, wobei er uns öfter mit ziemlich stolzer Miene anblickt. Wir wissen Alles, verrathen uns aber auch nicht durch das leiseste Zeichen. Wenn mein Zögling auch nur den Mund zu öffnen wagte, so wäre er werth, vernichtet zu werden.
Alle Einzelheiten dieses Beispiels sind von ungleich höherer Wichtigkeit, als es den Anschein haben möchte. Wie viel Lehren sind in dieser einzigen enthalten! Welche demüthigenden Folgen zieht die erste Regung der Eitelkeit nach sich! Junger Lehrer, sorge dafür, daß dir diese erste Regung nicht entgeht! Verstehst du es so einzurichten,daß für deinen Zögling daraus gleichfalls Demüthigungen und Unannehmlichkeiten hervorgehen müssen, [3] dann kannst du versichert sein, daß sobald keine zweite folgen wird. »Aber was für künstliche Vorkehrungen!« wird man einwenden. Ich räume es ein, und dies Alles nur – um uns eine Boussole zu verschaffen, die uns die Mittagslinie vertreten kann.
Nachdem wir uns davon überzeugt haben, daß der Magnet auch durch andere Körper hindurchwirkt, haben wir nichts Eiligeres zu thun, als eine Maschine zu construiren, die der, welche wir gesehen haben, ähnlich ist: einen ausgeschnittenen Tisch, ein in die Höhlung passendes ganz flaches Becken, welches einige Linien hoch mit Wasser gefüllt ist, eine mit etwas größerer Sorgfalt gearbeitete Ente u.s.w. Nachdem wir den Bewegungen derselben rings um das Becken oft unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben, machen wir endlich auch die auffallende Beobachtung, daß die Ente, sobald sie sich in Ruhe befindet, fast immer nach der nämlichen Richtung schaut. Diese Beobachtung beschäftigt unser Nachdenken, wir untersuchen die erwähnte Richtung und kommen zu dem Ergebniß, daß sie von Süden nach Norden geht. Mehr bedarf es nicht; unser Kompaß ist gefunden oder doch so gut wie gefunden. Damit haben wir uns den Weg zur Physik gebahnt.
Es gibt auf der Erde verschiedene Himmelsstriche und in denselben wieder verschiedene Temperaturen. Je mehr wir uns dem Pole nähern, desto auffallender
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