Emil oder Ueber die Erziehung
herbeidrängen; und gerade vor diesen muß man ihn bewahren. Wenn ihr indeß die Wissenschaft an und für sich ins Auge fasset, so fahret ihr in ein Meer ohne Grund, ohne Ufer und voller Klippen hinaus, aus dem ihr euch nie wieder zurückfinden werdet. Wenn ich einen Menschen sehe, der, voll heißer Liebe zu den Wissenschaften, sich durch den Reiz derselben verführen läßt und, unvermögend sich zu beherrschen, von einer zu der andern eilt: so kommt es mir vor, als sehe ich ein Kind, welches am Meeresufer Muscheln sammelt und sich mit ihnen gleich Anfangs beladet, darauf jedoch, durch den Anblick immer neuer in Versuchunggebracht, einige wieder wegwirft und andere aufhebt, bis es schließlich, von ihrer Menge überbürdet und außer Stande noch eine Wahl zu treffen, alle wegwirft und leer zurückkehrt.
Während des ersten Lebensalters verstrich die Zeit langsam; aus Besorgniß, sie übel anzuwenden, gingen wir nur darauf aus, sie zu vertreiben. Jetzt tritt das Gegentheil ein, denn wir haben nicht Zeit genug, um Alles auszuführen, was ersprießlich sein würde. Erwäget, daß die Leidenschaften im Anzuge sind, und daß euer Zögling, sobald sie an die Thüre klopfen, ihnen seine Aufmerksamkeit ausschließlich schenken wird. Das friedliche Alter des erwachenden Verstandes dauert so kurz, vergeht so schnell, muß zu so viel andern notwendigen Dingen ausgenützt werden, daß es geradezu eine Thorheit wäre, zu verlangen, sie solle auch noch hinreichend sein, das Kind gelehrt zu machen. Es kommt weniger darauf an, es in den Wissenschaften zu unterrichten als darauf, ihm Geschmack an denselben einzuflößen und ihm die Methoden beizubringen, sie zu erlernen, sobald sich dieser Geschmack erst mehr entwickelt haben wird. Dies ist sicherlich ein Hauptgrundsatz jeglicher guten Erziehung.
Jetzt ist auch die rechte Zeit gekommen, in der man das Kind nach und nach daran gewöhnen muß, einem und demselben Gegenstande eine ununterbrochene Aufmerksamkeit zu schenken; aber diese Aufmerksamkeit darf nie etwa erzwungen werden, sondern muß stets aus eigener Lust und Liebe hervorgehen. Sorgfältig muß man darüber wachen, daß sie dem Kinde nicht zur Last falle oder ihm gar Langeweile verursache. Haltet deshalb beständig das Auge offen, und stehet, was auch immer die Folge davon sein möge, von Allem ab, noch ehe es eine Beute der Langenweile wird; denn es ist durchaus nicht so wichtig, daß es etwas lerne, als vielmehr daß es nichts mit Widerwillen verrichte.
Legt euch das Kind Fragen vor, so antwortet nur gerade so viel als nöthig ist, seine Wißbegierde rege zu erhalten, nicht aber sie völlig zu befriedigen. Vorzüglich beobachtet aber augenblicklich die größte Zurückhaltung,wenn ihr wahrnehmt, daß es nicht fragt, um sich zu unterrichten, sondern nur um zu faseln und euch mit albernen Fragen zu belästigen, denn dann steht so viel fest, daß es ihm nicht mehr um die Sache, sondern lediglich darum zu thun ist, euch durch seine Fragen zu tyrannisiren. Man muß dabei weniger die Worte, die es spricht, als vielmehr den Beweggrund beachten, der es zum Sprechen treibt. Diese Warnung, welche bisher weniger nöthig war, wird von der äußersten Wichtigkeit, sobald das Kind selbst zu urtheilen beginnt.
Es gibt eine Kette von allgemeinen Wahrheiten, vermittelst welcher alle Wissenschaften von gemeinsamen Principien ausgehen und sich erst nach und nach aus denselben entwickeln. An diese Kette halten sich die Philosophen; um sie handelt es sich jedoch hier nicht. Es gibt indeß noch eine andere, wesentlich von dieser ersteren verschiedene, durch welche jeder einzelne Gegenstand nothwendig einen anderen nach sich zieht und auf den, der ihm folgt, hinweist. Letztere Ordnung nun, welche durch eine ununterbrochene Neugier die Aufmerksamkeit, die alle diese Gegenstände erfordern, wach erhält, ist es, der die meisten Menschen folgen, und die vorzugsweise den Kindern vorteilhaft ist. Damit wir uns beim Entwurfe unserer Karten zu orientiren vermochten, mußten wir Mittagslinien ziehen. Zwei Durchschnittspunkte zwischen den am Morgen und Abend gleich großen Schatten liefern für einen dreizehnjährigen Astronomen eine ausgezeichnete Mittagslinie. Aber diese Mittagslinien verwischen sich immer wieder; es erfordert Zeit, sie stets von Neuem zu ziehen. Sie nöthigen uns dazu, beständig an dem nämlichen Orte zu arbeiten. So viel Mühe, so viel Zwang müßten dem Kinde endlich langweilig werden. Wir haben es vorausgesehen und treffen
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