Emil oder Ueber die Erziehung
wird uns der Wechsel der Jahreszeiten. Alle Körper ziehen sich in der Kälte zusammen und dehnen sich in der Wärme aus. Diese Wirkung läßt sich an Flüssigkeiten am besten messen und fällt bei Spirituosen am meisten in die Augen. DieserErscheinung hat der Thermometer seine Entstehung zu verdanken. Der Wind trifft das Gesicht: die Luft ist folglich ein Körper, ein Fluidum; man fühlt sie, obgleich man kein Mittel besitzt, sie dem Auge sichtbar zu machen. Stellt man ein umgedrehtes Glas ins Wasser, so wird es das Wasser nicht völlig ausfüllen, wenigstens so lange man der Luft keinen Ausgang gestattet. Folglich ist die Luft widerstandsfähig. Drückt man das Glas noch tiefer hinein, so wird das Wasser zwar steigen, ohne jedoch den Raum völlig ausfüllen zu können. Die Luft kann demnach bis zu einem gewissen Punkte zusammengepreßt werden. Ein mit comprimirter Luft gefüllter Ball springt höher als ein mit irgend einem anderen Stoffe gefüllter; die Luft ist deshalb ein elastischer Körper. Erhebt man, wenn man ausgestreckt im Bade liegt, den Arm horizontal aus dem Wasser, so wird man den Eindruck erhalten, als ob ein ungeheures Gewicht auf demselben laste. Die Luft ist folglich auch ein schwerer Körper. Setzt man die Luft mit anderen Flüssigkeiten ins Gleichgewicht, so ist man im Stande ihr Gewicht zu messen; daher schreibt sich der Barometer, der Heber, die Windbüchse, die Luftpumpe. Alle Gesetze der Statik und der Hydrostatik können aus ganz alltäglichen Erfahrungen hergeleitet werden. Ich verlange durchaus nicht, daß man deswegen ein Cabinet für Experimentalphysik besuche; all dieser Apparat von Instrumenten und Maschinen behagt mir nicht. Der gelehrte Anstrich tödtet die Wissenschaft. Entweder schrecken alle diese Maschinen ein Kind nur zurück, oder ihre Gestalt theilt die Aufmerksamkeit desselben, welche sich allein auf die Experimente richten sollte.
Mein Wunsch ist, daß wir uns alle unsere Maschinen selbst verfertigen; mit der Construction eines Instruments will ich jedoch nicht eher vorgehen, als bis uns eine hinreichende Erfahrung zur Seite steht. Haben wir nun wie zufällig eine Erfahrung gemacht, so wünsche ich, daß wir auch das Instrument, welches uns dieselbe bestätigen soll, nach und nach erfinden. Lieber als die vollkommensten und genauesten Instrumente sind mir unsere hier und da vielleicht etwas mangelhaften, sobald nur unsere Ideenvon dem, was sie sein sollen, und von den Wirkungen, die sie hervorbringen sollen, klarer und genauer sind. Behufs meines ersten Unterrichts in der Statik lege ich, anstatt erst nach einer Wage umherzuschicken, einen Stab quer über die Stuhllehne, messe, wenn sich der Stab im Gleichgewichte befindet, die Länge der beiden Arme desselben und hänge auf beide Seiten bald gleiche, bald ungleiche Gewichte, und finde dadurch, daß ich ihn nach Bedürfniß hin und her ziehe und schiebe, endlich, daß das Gleichgewicht durch das wechselseitige Verhältniß zwischen der Größe des Gewichtes und der Länge der Hebelarme hergestellt wird. Dadurch hat mein kleiner Physiker schon die Fähigkeit erhalten, Wagen zu berichtigen, noch ehe er solche gesehen hat.
Es erleidet keinen Widerspruch, daß die Begriffe von den Dingen, welche man sich auf diese Weise selbst erwirbt, viel deutlicher und zuverlässiger sind als diejenigen, welche man sich durch die Unterweisung Anderer aneignet. Man gewöhnt dadurch seine Vernunft nicht nur nicht, sich knechtisch einer fremden Autorität zu unterwerfen, sondern man macht sich auch fähiger, Beziehungen aufzufinden, Ideen zu associiren, Instrumente zu ersinnen, als wenn man Alles, so wie es dargeboten wird, hinnimmt und den Geist in Trägheit versinken läßt, wie ja auch der Körper eines Mannes, der sich von seinen Leuten von Kopf bis zu Füßen anziehen und von seinen Pferden fahren läßt, schließlich die Kraft und den Gebrauch seiner Glieder verliert. Boileau pflegte sich damit zu rühmen, daß er Racine die Kunst, schwer zu reimen, beigebracht hätte. Bei so vielen meisterhaften Methoden, die die Erleichterung des Studiums der Wissenschaften bezwecken, wäre es wahrlich außerordentlich nothwendig, daß uns Jemand auch eine zur Erschwerung desselben an die Hand gäbe.
Der klarste und sichtbarste Vortheil dieser langsamen und mühseligen Untersuchungen beruht darin, daß man bei all den speculativen Studien den Körper in seiner Thätigkeit und die Glieder in ihrer Geschmeidigkeit erhält und die Hände unablässig zur
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