Emil oder Ueber die Erziehung
Arbeit und zu einem dem Menschen nützlichen Gebrauche ausbildet. Die vielen Instrumente,welche zu dem Zwecke erfunden sind, uns bei unseren Experimenten zu leiten und unseren Sinnen da, wo es ihnen an der nöthigen Genauigkeit gebricht, ergänzend zur Seite zu treten, haben den Uebelstand hervorgerufen, daß wir die Uebung der Sinne nun erst recht vernachlässigen. Der Winkelmesser befreit uns von der Mühe, die Größe der Winkel abzuschätzen. Das Auge, welches ganz gut im Stande wäre, die Entfernungen mit Genauigkeit zu bestimmen, verläßt sich auf die Kette, die sie statt seiner mißt; die Schnellwage, durch welche ich das Gewicht kennen lerne, erspart es mir, dasselbe mit der Hand abzuschätzen. Je sinnreicher unsere Werkzeuge sind, desto unausgebildeter und ungeschickter werden unsere Organe. Weil wir darauf ausgehen, uns äußerlich mit Hilfsmitteln zu umgeben, finden wir dieselben nicht mehr in uns selbst.
Sobald wir jedoch zur Herstellung dieser Maschinen die Geschicklichkeit aufbieten, die bisher für jene eintrat, sobald wir zu ihrer Anfertigung den Scharfsinn anwenden, der uns ihre Entbehrung bisher nicht fühlbar machte, so gewinnen wir, ohne daneben irgend einen Verlust zu haben, wir verbinden die Kunst mit der Natur und werden scharfsinniger, ohne an unserer Geschicklichkeit eine Einbuße zu erleiden. Wenn ich ein Kind, anstatt es fortwährend über den Büchern sitzen zu lassen, in einer Werkstatt beschäftige, so arbeiten seine Hände zum Vortheile seines Geistes: es wird ein Philosoph, trotzdem es sich nur für einen Handwerker hält. Endlich bringt diese Uebung auch noch andere Vortheile, deren ich weiter unten erwähnen werde; und man wird sehen, wie man sich von philosophischen Spielereien zu den wahren menschlichen Tätigkeiten zu erheben vermag.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß sich die rein speculativen Kenntnisse für die Kinder selbst dann nicht eignen, wenn sie sich schon dem Jünglingsalter nähern. Indeß muß man, ohne sie gerade sehr weit in die systematische Physik eindringen zu lassen, darauf hinzuwirken suchen, daß sich alle ihre Erfahrungen durch eine Art von Deduction an einander reihen, damit sie sie mit Hilfe dieserVerkettung in ihrem Geiste zu ordnen und, so oft es das Bedürfniß erheischt, in ihre Erinnerung zurückzurufen vermögen; denn es ist sehr schwer, daß nicht im Zusammenhange stehende Thatsachen und selbst Schlußfolgerungen lange im Gedächtnisse haften bleiben, sobald es an einem Anknüpfungspunkte fehlt, von dem aus man sie stets wieder in der Erinnerung wach rufen kann.
Bei dem Aussuchen der Naturgesetze beginne man beständig mit den gewöhnlichsten und sinnlich wahrnehmbarsten Erscheinungen und gewöhne seinen Zögling, diese Erscheinungen nicht für Gründe, sondern für Thatsachen zu halten. Ich nehme einen Stein und stelle mich, als ob ich ihn in die Luft legen wolle. Nun öffne ich die Hand, und der Stein fällt. Ich bemerke, daß Emil Alles, was ich thue, aufmerksam verfolgt und frage ihn: »Weshalb ist dieser Stein gefallen?«
Welches Kind würde diese Frage unbeantwortet lassen? Keins, selbst Emil nicht, wenn ich es nicht habe meine Hauptsorge sein lassen, ihn so vorzubereiten, daß er sich seines Unvermögens, eine Antwort geben zu können, bewußt ist. Sämmtliche werden sagen, daß der Stein fällt, weil er schwer ist. Was ist denn nun aber schwer? Das, was fällt. Der Stein fällt also, weil er fällt? Hier sitzt mein kleiner Philosoph ernstlich fest. Das ist seine erste Lection in der systematischen Physik, und möge er nun aus ihr für letztere einen directen Nutzen ziehen oder nicht, jedenfalls wird sie für die Ausbildung seines richtigen Urtheils vorteilhaft sein.
Je mehr die geistige Entwickelung des Kindes zunimmt, desto mehr zwingen uns andere wichtige Erwägungen, zu seinen bisherigen Beschäftigungen noch neue hinzutreten zu lassen. Sobald das Kind dahin gelangt, sich wenigstens in dem Umfange zu kennen, daß es begreift, was sein Wohlbefinden ausmacht, sobald es auch ausgedehntere Beziehungen in dem Grade zu fassen vermag, daß es das beurtheilen kann, was ihm ersprießlich ist, und was nicht, so ist es auch im Stande, den Unterschied zwischen Arbeit und Vergnügen herauszufühlen und letzteres nur als eine Erholung von der Arbeit zu betrachten. Alsdann könnenGegenstände, welche einen wirklichen Nutzen gewähren, in den Kreis seiner wirklichen Studien hineingezogen werden, und nun tritt die Verpflichtung an dasselbe
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