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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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heran, ihnen einen beharrlicheren Fleiß zu widmen, als es bisher auf die bloßen Vergnügungen verwandte. Das Gesetz der Nothwendigkeit, welches sich immer wieder geltend macht, lehrt den Menschen schon früh, das zu thun, was ihm nicht gefällt, um dadurch einem Uebel vorzubeugen, daß ihm noch mehr mißfallen würde. Darin besteht der Vortheil der Voraussicht, und aus dieser gut oder schlecht geregelten Voraussicht entspringt alle menschliche Weisheit sowie alles menschliche Elend.
    Jeder Mensch will glücklich werden; um aber dies Ziel zu erreichen, müßte er zunächst wissen, was das Glück denn eigentlich bildet. Das Glück des Naturmenschen ist eben so einfach wie sein Leben; es besteht in Gesundheit, Freiheit, Besitz des Notwendigen, mit einem Worte in dem Freisein von Leiden. Das Glück des moralischen Menschen trägt einen anderen Charakter; aber von diesem ist hier nicht die Rede. Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß nur rein physische Gegenstände den Kindern Interesse einzuflößen vermögen, namentlich solchen, deren Eitelkeit noch nicht erweckt ist und welche nicht bereits durch das Gift der Meinung verderbt sind.
    Wenn die Kinder ihre Bedürfnisse, noch ehe sie dieselben empfinden, voraussehen, so ist ihr Verstand schon weit vorgeschritten; sie beginnen den Werth der Zeit zu erkennen. Jetzt ist es von hoher Wichtigkeit, sie daran zu gewöhnen, diese auf nützliche Dinge zu verwenden. Freilich muß der Nutzen derselben ihrem Alter bemerkbar und ihrem Verstande einleuchtend sein. Alles, was auf die moralische Ordnung und auf das gesellschaftliche Herkommen Bezug hat, darf ihnen nicht so bald vorgeführt werden, weil sie noch nicht im Stande sind, es zu verstehen. Es ist eine leidige Thorheit, von ihnen zu verlangen, daß sie sich Dinge aneignen sollen, von denen man ihnen ganz im Allgemeinen sagt, daß sie zu ihrem Besten seien, ohne daß sie wissen, worin denn dies Beste bestehe, und von denen man ihnen die Versicherung ertheilt, sie würden als ErwachseneVortheil davon haben, ohne daß sie für diesen angeblichen Vortheil, welchen sie noch gar nicht zu begreifen vermögen, gegenwärtig irgend ein Interesse fühlen.
    Das Kind darf nie etwas auf das bloße Wort thun; nichts ist demselben gut, als das, wovon es selbst fühlt, daß es gut ist. Indem ihr euch beständig bestrebt, das Kind über die Grenzen seiner Einsichten hinauszudrängen, glaubt ihr mit großer Voraussicht zu verfahren, während es euch gerade an derselben gebricht. Um es mit einigen unnützen Werkzeugen auszurüsten, die es vielleicht niemals anzuwenden Gelegenheit haben wird, beraubt ihr es des Universalhilfsmittels des Menschen, nämlich der gesunden Vernunft, gewöhnt es, sich stets leiten zu lassen und stets nur eine Maschine in den Händen Anderer zu sein. Ihr verlangt, es soll gelehrig sein, so lange es noch klein ist; damit verlangt ihr aber nur, es soll leichtgläubig und ein Einfaltspinsel sein, wenn es groß ist. Ihr wiederholet ihm unaufhörlich: »Alles, was ich von dir begehre, ist zu deinem eigenen Besten, allein du bist noch nicht im Stande es einzusehen. Was kann es mir verschlagen, ob du meiner Aufforderung nachkommst oder nicht? Du arbeitest lediglich für dich allein.« Mit all diesen schönen Predigten, die ihr ihm jetzt haltet, um es weise zu machen, erreicht ihr nichts weiter, als daß ihr es den Geistersehern, Alchimisten, Marktschreiern, Betrügern und Narren aller Art leichter macht, es dereinst in ihren Schlingen zu fangen und auf ihre Thorheiten eingehen zu lassen.
    Allerdings ist es für einen Mann von Belang, viele Kenntnisse zu besitzen, deren Nutzen ein Kind nicht zu begreifen vermag; aber muß denn durchaus und kann überhaupt ein Kind Alles lernen, was einem Manne zu wissen vorteilhaft ist? Versucht es, dem Kinde alles das beizubringen, was für sein Alter nützlich ist, und ihr werdet euch überzeugen, daß seine ganze Zeit damit mehr als ausgefüllt ist. Weshalb wollt ihr es zum offenbaren Nachtheil der Studien, die sich gerade gegenwärtig für dasselbe eignen, zu denjenigen eines Alters zwingen, von dem es so wenig sicher ist, ob es dasselbe erreichen wird. Aber, werdet ihr sagen, wird es denn noch Zeit sein, das,was man wissen muß, zu lernen, wenn der Augenblick gekommen ist, wo Alles auf die Anwendung desselben ankommt? Das weiß ich freilich nicht; aber so viel weiß ich wenigstens, daß es unmöglich ist, es früher zu lernen; denn unsere wahren und eigentlichen Lehrmeister sind die

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