Emil oder Ueber die Erziehung
es sich hier handelt, beginnen. Der Uebergang von der Kindheit zur Pubertät ist von der Natur nicht so genau bestimmt, daß sich nicht bei den Einzelnen in Folge der Verschiedenheit ihrer Temperamente und wieder bei ganzen Völkern in Folge der besonderen Klimate Abweichungen zeigten. Jedermann kennt die Verschiedenheiten, welche man in Bezug auf diesen Punkt zwischen den heißen und kalten Ländern beobachtet hat, und Jeder kann sich davon überzeugen, daß bei feurigen Temperamenten eine frühzeitigere Entwickelung stattfindet als bei anderen. Allein hinsichtlich der Ursachen kann man sich Täuschungen hingeben und dem Physischen oft das zuschreiben, wofür das Moralische die Verantwortung tragen muß. In diesen Irrthum verfällt gerade sehr häufig die Philosophie unseres Jahrhunderts. Der Unterricht, welchen die Natur ertheilt, nimmt erst spät seinen Anfang und schreitet nur langsam fort, derjenige aber, welchen wir den Menschen verdanken, ist fast regelmäßigverfrüht. Im ersterm Falle erwecken die Sinne die Einbildungskraft, im letzteren erweckt dagegen die Einbildungskraft die Sinne; sie versetzt dieselben vor der richtigen Zeit in Thätigkeit, ein Umstand, der notwendigerweise zunächst die einzelnen Individuen, dann aber auch die Gattung selbst dauernd entnerven und schwächen muß. Eine noch allgemeinere und zuverlässigere Beobachtung als die hinsichtlich des Einflusses der Klimate lehrt uns, daß die Pubertät und die geschlechtliche Reife bei gebildeten und civilisirten Völkern stets früher eintritt, als bei ungebildeten und rohen Völkern. [1] Die Kinder haben einen ganz merkwürdigen Scharfsinn, unter der angenommenen Maske der Wohlanständigkeit die Sittenlosigkeit zu erkennen, die sich unter derselben zu verstecken sucht. Die äußerlich feine Sprache, zu der man sie anhält, die Anstandslehren, die man ihnen gibt, der Schleier des Geheimnisses, welchen man in recht auffallender Weise vor ihre Augen zu ziehen sucht, sind eben so viele Anreizungen zur Neugier. Nach der Art und Weise, wie man sich dabei benimmt, liegtes auf der Hand, daß man geradezu darauf ausgeht, sie das zu lehren, was man ihnen angeblich zu verbergen sucht. Von keinem Unterrichte, den man ihnen ertheilt, behalten sie so viel als von diesem.
Zieht die Erfahrung zu Rathe, und ihr werdet einsehen, bis zu welchem Grade dieses unverständige Verfahren das Werk der Natur beschleunigt und den Körper zu Grunde richtet. Hierin liegt eine der hauptsächlichsten Ursachen zu der Entartung der Familien in den Städten. Die jungen Leute bleiben in Folge frühzeitiger Erschöpfung klein und schwach, sehen verlebt aus und altern statt zu wachsen, wie der Weinstock, welchen man zwingt, im Frühjahr Trauben zu tragen, noch vor dem Herbste welkt und abstirbt.
Man muß unter ungebildeten und einfachen Völkern gelebt haben, um sich davon zu überzeugen, bis zu welchem Alter unter ihnen eine glückliche Unwissenheit die Unschuld der Kindheit zu verlängern vermag. Es ist ein zugleich rührendes wie Lächeln hervorrufendes Schauspiel, daselbst zu sehen, wie die beiden Geschlechter, der Sorglosigkeit ihrer Herzen überlassen, unbefangen die Spiele der Kindheit bis zur Blüte des Alters und der Schönheit fortsetzen und wie sie selbst durch ihren vertraulichen Umgang die Reinheit ihrer Belustigungen an den Tag legen. Wenn sich diese liebenswürdige Jugend dann endlich verehelicht, so werden sich die beiden Gatten, da sie sich gegenseitig mit den Erstlingen ihrer Person beschenken, nur um so theurer werden. Eine Schaar gesunder und kräftiger Kinder wird das Pfand einer Vereinigung, die nichts zu trüben im Stande ist, und der Lohn ihrer Keuschheit in ihren früheren Jahren.
Wenn das Alter, in welchem in dem Menschen das Bewußtsein seines Geschlechtes erwacht, sowol in Folge des Einflusses der Erziehung als auch der Einwirkung der Natur, so vielen Abweichungen unterworfen ist, so folgt hieraus, daß man diesen Zeitpunkt durch die Art der Erziehung beschleunigen oder verzögern kann; und wenn nun der Körper, je nachdem man diesen Eintritt der geschlechtlichen Reife verzögert oder beschleunigt, an Festigkeit gewinntoder verliert, so ist die weitere Folge, daß ein junger Mann, je mehr man darauf bedacht ist, jenen zu verzögern, auch desto mehr Kraft und Stärke erlangt. Ich rede hier nur von den rein physischen Wirkungen; man wird sich jedoch bald überzeugen, daß es bei ihnen nicht sein Bewenden hat.
Diese Betrachtungen geben mir Anleitung
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