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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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zur Beantwortung der so oft ventilirten Frage, ob es sich empfiehlt, die Kinder frühzeitig über die Gegenstände ihrer Neugier aufzuklären, oder ob es besser sei, sie durch unschuldige Täuschungen davon abzulenken. Meiner Ansicht nach darf man weder das Eine noch das Andere thun. Erstlich wird in den Kindern, sobald man ihnen nicht Veranlassung dazu darbietet, diese Neugier gar nicht rege. Man muß sich deshalb hüten, sie in ihnen erst wach zu rufen. Zweitens legen uns Fragen, zu deren Beantwortung wir nicht gezwungen sind, auch nicht die Notwendigkeit auf, das Kind, welches sie an uns richtet, zu täuschen. Es ist besser, ihm Stillschweigen aufzuerlegen, als ihm eine unwahre Antwort zu ertheilen. Ein solches Gebot wird es keineswegs überraschen, wenn es sich demselben schon früher bei ganz gleichgiltigen Dingen hat unterwerfen müssen. Endlich lasse man nicht außer Acht, daß die Antwort, wenn man sich einmal zu derselben entschließt, mit der größten Einfachheit, ohne Geheimnißkrämerei, ohne Verlegenheit, ohne Lächeln geschehen muß. In der Befriedigung der kindlichen Neugier liegt eine geringere Gefahr als in der Erregung derselben.
    Euere Antworten müssen stets ernst, kurz und entschieden sein; es darf nie den Anschein gewinnen, als ob ihr zögertet, sie zu ertheilen. Es bedarf wol nicht erst der besonderen Erwähnung, daß sie auf Wahrheit beruhen müssen. Man kann die Kinder nicht auf das Gefährliche, Erwachsene zu belügen, aufmerksam machen, ohne von dem Gefühle überschlichen zu werden, eine wie viel größere Gefahr darin liegt, daß Erwachsene Kinder belügen. Eine einzige Lüge, die der Lehrer nachweislich dem Kinde gegenüber ausgesprochen hat, würde alle Früchte seiner Erziehung auf immer vernichten.
    Eine vollkommene Unwissenheit über gewisse Dinge würde für die Kinder vielleicht das Ersprießlichste sein; allein das, was man ihnen doch nicht auf die Dauer zu verhehlen vermag, müssen sie frühzeitig lernen. Entweder muß man das Erwachen ihrer Neugier zu verhindern suchen, oder dieselbe muß vor dem Alter Befriedigung erhalten, in welchem es nicht mehr ohne Gefahr geschehen könnte. In diesem Punkte hängt das Verhalten, welches ihr eurem Zöglinge gegenüber zu beobachten habt, wesentlich von seiner besonderen Lage, von der Gesellschaft, in der er sich bewegt, von den Verhältnissen, in denen er aller Voraussicht nach einst leben wird u. s. w. ab. Es kommt viel darauf an, hierbei nichts dem Zufalle zu überlassen, und habt ihr nicht die völlige Gewißheit, daß ihr ihn bis zu seinem sechszehnten Jahre über den Unterschied der Geschlechter in Unwissenheit zu erhalten vermögt, so sorgt dafür, daß er ihn vor dem zehnten Jahre erfahre.
    Ich bin kein Freund davon, daß man, um darüber hinfort zu kommen, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, den Kindern gegenüber eine gar zu feine Sprache führt oder erst lange Umschweife macht, die sie doch durchschauen. Edele Sitten sind bei diesen Dingen von einer gewissen Einfalt untrennbar, während eine durch das Laster befleckte Einbildungskraft das Ohr empfindlich macht und uns nöthigt, unsere Ausdrücke unaufhörlich zu verfeinern. Derbe Ausdrücke sind ungefährlich, aber vor schlüpfrigen Ideen muß man auf der Hut sein. Obgleich die Schamhaftigkeit dem menschlichen Geschlechte natürlich ist, so besitzen sie die Kinder doch noch nicht als eine Mitgabe der Natur. Die Scham entsteht erst mit der Erkenntniß des Bösen, und wie sollten nun die Kinder, die diese Erkenntniß weder haben noch haben sollen, mit einem Gefühle vertraut sein, welches erst die Wirkung derselben ist? Ihnen einen Begriff von Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit beibringen, heißt sie lehren, daß es schamlose und unehrbare Dinge gibt, heißt ihnen ein geheimes Verlangen einflößen, diese Dinge kennen zu lernen. Früher oder später werden sie dieses Gelüst befriedigen, und der erste Funke, welcher ihre Einbildungskraft trifft, beschleunigtunzweifelhaft die Entzündung der Sinne. Wer erröthet, fühlt sich bereits schuldig; der wahren Unschuld ist die Scham fremd.
    Die Kinder haben nicht dieselben Gelüste wie die Erwachsenen; da sie indeß eben so wie Letztere gewissen unsauberen Bedürfnissen, welche die Sinne verletzen, unterworfen sind, so lassen sich schon an dieses Naturgesetz Lehren über das Schickliche anknüpfen. Man folge dem Geiste der Natur, welche uns dadurch, daß sie den Organen der geheimen Vergnügungen und denen der Ekel erregenden

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