Emil oder Ueber die Erziehung
Bedürfnisse denselben Ort angewiesen hat, in den verschiedenen Lebensaltern bald durch die eine, bald durch die andere Vorstellung zu der gleichen Schonung auffordert, den Mann durch die Ehrbarkeit, das Kind durch die Reinlichkeit.
Ich kenne nur ein einziges Erfolg versprechendes Mittel, den Kindern ihre Unschuld zu bewahren, und dies besteht darin, daß ihre ganze Umgebung die nöthige Rücksicht auf sie nimmt und sie liebt. Ohne dies wird alle Zurückhaltung, welche man sich ihnen gegenüber zu beobachten bemüht, früher oder später fehlschlagen. Ein Lächeln, ein Blick, eine unwillkürlich entschlüpfte Geberde sagen ihnen Alles, was man ihnen zu verheimlichen sucht. In dem bloßen Umstände, daß man es ihnen hat verhehlen wollen, liegt schon für sie eine genügende Aufklärung. Die Zartheit in den Wendungen und Ausdrücken, deren sich die Gebildeten unter einander zu bedienen pflegen, ist, da sie Kenntnisse voraussetzt, welche die Kinder noch gar nicht haben können, diesen gegenüber völlig übel angebracht. Achtet man indeß wirklich ihre Einfalt, so überträgt man dieselbe bei einem Gespräche mit den Kindern auch unwillkürlich auf die Ausdrücke, die man nur so wählt, daß sie ihnen angemessen und verständlich sind. Es gibt eine gewisse Naivetät der Sprache, welche angenehm berührt und auch der Unschuld gefällt. Das ist der wahre Ton, welcher ein Kind von gefährlicher Neugier ablenkt. Dadurch, daß man mit ihm Alles in aller Einfalt bespricht, beugt man dem Argwohne vor, daß noch etwas übrig sei, was man ihm nicht gesagt habe. Verbindet man mit derbenWorten Vorstellungen, die ihm zwar verständlich sind, aber gleichzeitig seinen Widerwillen erregen, so erstickt man damit das erste Feuer seiner Einbildungskraft. Ohne daß man ihm verbietet, solche Worte auszusprechen und solche Vorstellungen zu haben, flößt man ihm, ohne daß es sich dessen bewußt wird, eine Abneigung gegen deren Wiederholung ein. Und wie viel Verlegenheit wird diese in aller Unbefangenheit gegebene Erlaubniß nicht denen ersparen, die schon ihr eigenes Herz zur Offenheit auffordert und deshalb stets sagen, was zu sagen nöthig ist, und es immer so heraussagen, wie es ihnen um das Herz ist.
»Wo kommen die Kinder her?« Das ist in der That eine Frage, die ganz geeignet ist, in Verlegenheit zu setzen, auf welche die Kinder indeß ganz natürlich verfallen, und deren unverständige oder kluge Beantwortung bisweilen für ihre Sitten und ihre Gesundheit das ganze Leben hindurch entscheidend ist. Die kürzeste Art und Weise, auf welche eine Mutter meint sich aus der Verlegenheit ziehen zu können, ohne ihren Sohn zu täuschen, besteht darin, daß sie ihm Stillschweigen auferlegt. Das würde ganz gut sein, wenn sie ihn schon seit lange auch bei gleichgiltigen Fragen daran gewöhnt hätte und er nun nicht bei diesem neu angeschlagenen Tone gerade erst recht ein Geheimniß argwöhnte. Aber auch nur in seltenen Fällen wird die Mutter dabei stehen bleiben. »Das ist ein Geheimniß der verheirateten Leute,« wird sie vielleicht zu ihm sagen, »kleine Knaben müssen nicht so neugierig sein.« Das ist freilich ein ganz gutes Mittel, um die Mutter aus der augenblicklichen Verlegenheit zu reißen, aber sie kann sich auch überzeugt halten, daß nun dieser kleine Knabe, welchem in dieser zurückweisenden Antwort eine gewisse Verachtung zu liegen scheint, nicht eher ruhen wird, bis er hinter das Geheimniß der verheirateten Leute gekommen ist, und daß es sicherlich nicht lange dauern wird, bis er seinen Zweck erreicht hat.
Ich bitte um Erlaubniß, hier eine davon sehr abweichende Antwort anführen zu dürfen, die ich auf dieselbe Frage habe geben hören, und welche mir um so auffallender war, als sie von einer Frau herrührte, welche sich sowolin ihren Reden als in ihrem Betragen durch die höchste Züchtigkeit auszeichnete, aber um des Wohles und der Tugend ihres Sohnes willen nicht Anstand nahm, sich über die falsche Furcht vor Tadel und über die hohlen Witzeleien Spottsüchtiger hinwegzusetzen. Das Kind hatte gerade nicht lange vorher beim Uriniren einen kleinen Stein mit ausgeworfen, der ihm die Harnröhre verletzt hatte; aber das Leiden war gehoben und vergessen. »Mama,« fragte der kleine Naseweis, »wo kommen die Kinder her?« Ohne im Geringsten zu stocken, erwiderte die Mutter sofort: »Mein Sohn, die Frauen uriniren sie unter großen Schmerzen, die ihnen bisweilen das Leben kosten, hervor.« Mögen die Narren lachen und die
Weitere Kostenlose Bücher