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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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stößt es ab. Darin spricht sich nur ein blinder Instinct aus. Erst die augenscheinliche Absicht, uns zu schaden oder zu nützen, verwandelt diesen Instinct in Empfindung, die Anhänglichkeit in Liebe, die Abneigung in Haß. Wir fühlen uns nicht zu unempfindlichen Wesen hingezogen, die nur dem Impulse folgen, welchen wir ihnen geben; diejenigen aber, von denen wir nach ihrer inneren Neigung, nach ihrer Willensrichtung Gutes oder Böses erwarten, diejenigen, die wir aus freiem Entschlüsse für oder wider uns handeln sehen, flößen uns dieselben Gefühle ein, die sie gegen uns zeigen. Wer uns nützlich ist, den suchen wir auf, wer uns aber nützen will, den lieben wir. Wir fliehen den, welcher uns schädlich ist, hassen aber den, welcher uns schaden will.
    Selbstliebe ist das erste Gefühl eines Kindes; das zweite, welches diesem entspringt, ist die Liebe zu denen, welche seine Umgebung bilden, denn in dem Zustande der Schwäche, in welchem sich dasselbe befindet, lernt es einen Jeden nur durch den Beistand und die Sorgfalt, die ihm zu Theil wird, kennen. Anfänglich ist die Anhänglichkeit, die es an seine Amme und seine Wärterin hat, nichts Anderes als Gewohnheit. Es trägt nach ihnen Verlangen, weil es ihrer bedarf und sich bei ihnen wohl befindet. Man kann hier eher von einer Bekanntschaft mit ihnen, als von einer wirklich erwachten Zuneigung zu ihnen reden.Es wird noch lange Zeit darüber hingehen, bis es zu der Einsicht gelangt, daß sie ihm nicht nur nützlich sind, sondern auch sein wollen, und erst dann beginnt es sie zu lieben.
    Ein Kind ist also von Natur zur Anhänglichkeit geneigt, weil es bemerkt, daß Jeder, der sich ihm naht, darauf bedacht ist, ihm Beistand zu leisten, und weil sich in Folge dieser Beobachtung die Gewohnheit in ihm bildet, auch seinerseits gegen seinesgleichen eine freundliche Gesinnung zu zeigen. Aber in dem Maße, wie sich seine Beziehungen, seine Bedürfnisse, seine active und passive Abhängigkeit erweitern, erwacht in ihm auch das Gefühl von den Verhältnissen, in welchen es zu Anderen steht, und ruft zugleich das Bewußtsein seiner Pflichten und der ihm zustehenden Rechte hervor. In Folge dessen wird das Kind befehlshaberisch, eifersüchtig, betrügerisch, rachgierig. Verlangt man von ihm Gehorsam, obwol es den Nutzen dessen, was man ihm befiehlt, nicht einzusehen vermag, so schreibt es die ihm ertheilten Befehle der Laune, der Absicht, es zu quälen zu und wird sich nur widerspenstig fügen. Zeigt man sich jedoch ihm gegenüber stets nachgiebig, so wird es, sobald ihm etwas widersteht, darin eine offene Auflehnung, eine Absicht, ihm Widerstand zu leisten, erblicken; es wird den Stuhl oder Tisch schlagen, weil sie ihm nicht gehorcht haben. Der Selbstliebe, deren Object ausschließlich wir selbst bilden, geschieht durch Befriedigung unserer wahren Bedürfnisse volles Genüge; die Eigenliebe dagegen, welche Vergleichungen macht, ist nie zufrieden gestellt und kann es nie sein, weil dies Gefühl, welches uns in unseren eigenen Augen den Vorrang vor allen Anderen sichert, den Anspruch erhebt, daß auch diese uns den Vorrang vor sich einräumen, was unmöglich ist. Die sanften und guten Leidenschaften haben ihre Quelle in der Selbstliebe, die dem Hasse und Zorne dienenden dagegen in der Eigenliebe. Folglich macht der Besitz weniger Bedürfnisse und die Enthaltung aller Vergleiche der eigenen Verhältnisse mit denen Anderer den Menschen wesentlich gut, während der Besitz vieler Bedürfnisse und die unaufhörliche Rücksichtnahme auf fremde Meinungen ihnwesentlich schlecht macht. Nach diesem Grundsatze ist leicht ersichtlich, wie man alle Leidenschaften der Kinder wie der Erwachsenen zum Guten oder zum Bösen zu lenken vermag. Es ist leider wahr, daß sie, da sie nicht immer für sich allein leben können, auch schwerlich immer gut leben werden; ja diese Schwierigkeit muß sich sogar mit der Zunahme ihrer Verbindungen noch steigern, und gerade aus diesem Grunde machen die Gefahren der Gesellschaft Kunst und Sorgfalt nur um so unerläßlicher, um der Verderbniß des menschlichen Herzens, die in seinen neuen Bedürfnissen ihre Wurzel hat, vorzubeugen.
    Das Studium, welches dem Menschen am meisten entspricht, ist das seiner Beziehungen. So lange er sich nur seinem physischen Wesen nach kennt, muß er danach trachten, sich in Bezug auf seine Beziehungen zu den Dingen kennen zu lernen. Diese Aufgabe fällt ihm in seiner Kindheit zu. Sobald er sich dagegen seines moralischen Wesens

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