Emil oder Ueber die Erziehung
Thoren Aergerniß daran nehmen, aber die Weisen mögen untersuchen, ob sie je eine vernünftigere und zweckentsprechendere Antwort finden werden.
Die Vorstellung eines natürlichen und dem Kinde bekannten Bedürfnisses läßt erstlich in demselben, und das ist das Treffende bei dieser Antwort, die Idee eines geheimnißvollen Vorganges nicht aufkommen. Außerdem breiten die sich daran knüpfenden Vorstellungen von Schmerz und Tod einen Schleier der Trauer über diesen Gedanken, welcher die Einbildungskraft dämpft und die Neugier zurückdrängt. Alles lenkt den Geist auf die Folgen der Geburt, nicht aber auf ihre Ursachen. Nur zu den Schwächen der menschlichen Natur, zu lauter widerlichen Dingen, zu Bildern des Leidens leiten die Aufschlüsse, die in dieser Antwort liegen, wenn überhaupt der Widerwille, den sie einflößt, es zuläßt, daß das Kind solche Aufschlüsse begehrt. Was wäre wol bei einer Unterhaltung, die in solcher Weise geleitet wird, im Stande, die schlummernden Lüste zu erregen? Trotzdem ist es leicht ersichtlich, daß die Wahrheit in keiner Weise beeinträchtigt wurde und daß es nicht nöthig gewesen ist, das Kind zu täuschen, anstatt es zu unterrichten.
Euere Kinder lesen; sie schöpfen aus ihrer Lectüre Kenntnisse, welche sie nicht gewonnen haben würden, wenn sie nicht gelesen hätten. Beim Studiren erhitzt und schärft sich in der Stille des Arbeitszimmers ihre Einbildungskraft. Leben sie in der Welt, so vernehmen sie zweideutigeund befremdende Reden und sind Zeugen von Dingen, die sie eigentümlich berühren. Nach dem Benehmen, welches man ihnen gegenüber beobachtet, hat sich in ihnen die Ueberzeugung, sie seien selbst schon Erwachsene, in so hohem Grade festgesetzt, daß sie bei Allem, was die Erwachsenen in ihrer Gegenwart thun, sofort versuchen, wie es sich bei ihnen ausnehmen möchte. Kann man sich darüber wundern? Gelten ihnen einmal die Urtheile Anderer als Gesetz, so müssen ihnen auch die Handlungen Anderer als Vorbilder dienen. Die Diener, welche man leider von ihnen abhängig gemacht hat, und in deren Interesse es folglich liegt, ihnen zu gefallen, bewerben sich zum Nachtheil ihrer Sittlichkeit um ihre Gunst. Vierjährigen Kindern gegenüber sprechen die Wärterinnen mit lächelndem Munde Dinge aus, die selbst die schamloseste von ihnen sich nicht erdreisten würde vor fünfzehnjährigen auszusprechen. Sie selbst vergessen ihre Aeußerungen zwar bald, die Kinder dagegen vergessen nie, was sie haben anhören müssen. Schlüpfrige Gespräche öffnen ausschweifenden Sitten Thor und Thür. Ein schurkischer Diener verführt das Kind, und ein gleiches Interesse legt Beiden Stillschweigen auf.
Das seinem Alter angemessen erzogene Kind sieht sich auf sich allem angewiesen. Die einzige Zuneigung, die es kennt, beruht auf Gewohnheit. Es liebt seine Schwester wie seine Uhr und seinen Freund wie seinen Hund. Es fühlt sich noch nicht als Glied eines besonderen Geschlechtes, einer besonderen Gattung: Mann und Weib sind ihm gleich fremd. Was sie auch thun oder reden, es bezieht nichts von Allem auf sich; es sieht und hört nichts davon oder beachtet es wenigstens nicht. Ihre Gespräche interessiren es eben so wenig als ihre Handlungen; alles dies ist für dasselbe so gut wie gar nicht da. Bei dieser Methode geht man nicht darauf aus, ihm irrthümliche Anschauungen beizubringen, sondern sucht es vielmehr nur in seiner natürlichen Unwissenheit zu erhalten. Es kommt die Zeit schon, wo die Natur selbst dafür Sorge trägt, ihren Zögling aufzuklären, und dieser Augenblick tritt erst dann ein, wenn sie ihn so weit vorbereitet hat, ohneNachtheil aus den Lehren, die sie ihm ertheilt, Nutzen ziehen zu können. Dies ist in kurzen Umrissen das Princip. Die Entwickelung der einzelnen Regeln gehört nicht zu der Aufgabe, die ich mir gestellt habe, jedoch dienen die Mittel, die ich hinsichtlich anderer Gegenstände vorschlage, gleichzeitig auch als Beispiele für diesen.
Wollt ihr in die erwachenden Leidenschaften Ordnung und Regel bringen, so verlängert den Zeitraum ihrer Entwickelung, damit sie die nöthige Zeit gewinnen, nach Maßgabe ihrer Entstehung in das richtige gegenseitige Verhältniß zu treten. Dann geht die Ordnung nicht von dem Menschen, sondern von der Natur selbst aus; eure einzige Aufgabe besteht darin, die Natur ungestört walten zu lassen. Wäre euer Zögling völlig für sich allein, so würdet ihr gar Nichts zu thun haben, so aber entflammt Alles, was ihn umgibt, seine
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