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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Wesens unruhig oder schüchtern wird: dann Ulysses, weiser Ulysses, sei auf deiner Hut! Die Schläuche, welche du mit so großer Sorgfalt verschlossen hieltest, sind bereits geöffnet; die Winde sind schon entfesselt; verlasse nun keinen Augenblick mehr das Steuerruder, oder Alles ist verloren.
    Jetzt findet diese zweite Geburt statt, von welcher ich geredet habe; jetzt wird der Mensch erst wirklich zum Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm mehr fremd. War unsere Sorgfalt bisher nur ein Kinderspiel gewesen, so wird sie jetzt von äußerster Wichtigkeit. Diese Epoche, in welcher für gewöhnlich die Erziehung ein Ende zu nehmen pflegt, ist gerade diejenige, in welcher die unserige erst recht ihren Anfang nehmen soll. Um diesen neuen Plan jedoch anschaulich entwickeln zu können, müssen wir uns aus einen höheren Standpunkt versetzen und einen Augenblick bei dem verweilen, was damit in Beziehung steht.
    Unsere Leidenschaften dienen als die Hauptwerkzeuge unserer Erhaltung; der Versuch, sie auszurotten, ist folglich ein eben so vergebliches als lächerliches Unterfangen. Das hieße die Natur meistern und an das Werk Gottes die bessernde Hand legen. Wenn Gott in der That von dem Menschen die Ertödtung der Leidenschaften, die er ihm erst selbst verliehen, verlangte, so würde er wollen und auch nicht wollen; er würde mit sich selbst in Widerspruch treten. Niemals hat er aber diesen unvernünftigen Befehl ertheilt, nichts dem Aehnliches ist dem Menschen in das Herz geschrieben. Was der Mensch nach dem Willen Gottes thun soll, läßt er ihm nicht durch einen andernMenschen sagen, er sagt es ihm selbst, er schreibt es ihm tief in das Herz hinein.
    Wer das Erwachen der Leidenschaften verhüten wollte, würde mir fast eben so thöricht vorkommen, wie derjenige der sie ertödten wollte; und wer die Ansicht hegen sollte, daß dies bisher meine Absicht gewesen sei, würde mich sicherlich ganz falsch verstanden haben.
    Würde es indeß nun wol eine richtige Folgerung sein, wenn man aus dem Umstande, daß Leidenschaften eine Mitgift der Natur sind, schließen wollte, daß alle Leidenschaften, welche wir in uns fühlen und an Anderen bemerken, deshalb auch natürlich seien? Die einzige Wahrheit liegt darin, daß ihre Quelle natürlich ist, aber tausend fremde Zuflüsse haben sie angeschwellt. Sie bilden einen mächtigen Strom, der unaufhörlich wächst, und in dem man kaum noch einige Tropfen seines ursprünglichen Wassers wiederfinden würde. Unsere natürlichen Leidenschaften sind sehr beschränkt; sie dienen als Werkzeuge unserer Freiheit und haben die Aufgabe, für unsere Erhaltung zu sorgen. Allein alle diejenigen, welche uns beherrschen und verzehren, haben ihre Quelle außer uns. Die Natur gibt sie uns nicht, sondern wir eignen sie uns zum Nachtheile derselben an.
    Die Quelle unserer Leidenschaften, der Anfang und die Grundursache aller übrigen, die einzige, die mit dem Menschen geboren wird und ihn nie verläßt, so lange er lebt, ist die Selbstliebe, diese primitive, angeborene, jeder anderen vorausgehende Leidenschaft, von welcher alle übrigen in gewissem Sinne nur Modificationen sind. In diesem Sinne sind freilich alle, wenn man will, natürlich. Aber der größte Theil dieser Modificationen hat fremde Ursachen, ohne welche sie sich niemals zeigen würden, und eben diese Modificationen sind so weit davon entfernt; uns zum Nutzen zu gereichen, daß sie uns vielmehr geradezu Schaden zufügen; sie verändern ihren ursprünglichen Zweck und treten mit ihrem eigenen Ursprünge in Widerstreit. Dann verläßt der Mensch die Bahn der Natur und geräth mit sich selbst in Widerspruch.
    Die Selbstliebe ist immer gut, immer der Ordnunggemäß. Da Jedem ganz besonders die Pflicht der Selbsterhaltung auferlegt ist, so ist und muß es auch eines Jeden erste und wichtigste Sorge sein, unaufhörlich über dieselbe zu wachen. Wie würde er es aber wol über sich gewinnen, in dieser Weise darüber zu wachen, wenn er nicht das größte Interesse daran hätte?
    Zu unserer Erhaltung bedürfen wir deshalb der Selbstliebe, ja, wir müssen uns mehr als alles Andere lieben, und in unmittelbarer Folge dieses Gefühls lieben wir auch Alles, was zu unserer Erhaltung nöthig ist. Jedes Kind hängt an seiner Amme, Romulus mußte an der Wölfin hängen, die ihn gesäugt hatte. Beim Beginn tritt diese Anhänglichkeit rein mechanisch auf. Was auf das Wohlsein eines Individuums günstig einwirkt, zieht dasselbe an; was ihm schädlich ist,

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