Emil oder Ueber die Erziehung
bewußt zu werden beginnt, muß es sein Bestreben sein, sich in Bezug auf seine Beziehungen zu den Menschen kennen zu lernen, und dies ist, von dem Zeitpunkte an gerechnet, bis zu welchem wir nun gelangt sind, die Aufgabe seines ganzen Lebens.
Sobald in dem Manne das Bedürfniß nach einer Gefährtin erwacht, ist er kein alleinstehendes Wesen mehr, gehört ihm sein Herz nicht mehr allein. Alle Beziehungen zu seiner Gattung, alle Gefühle seiner Seele entstehen gleichzeitig mit diesem. Seine erste Leidenschaft bringt bald alle übrigen in Gährung.
Die blos instinctive Neigung ist unbestimmt. Ein Geschlecht fühlt sich zu dem anderen hingezogen; darin spricht sich der Trieb der Natur aus. Eine bestimmte Wahl, eine besondere Bevorzugung, eine persönliche Zuneigung sind das Werk der Einsichten, der Vorurtheile, der Gewohnheit. Wir brauchen Zeit und Kenntnisse, um für die Liebe empfänglich zu werden. Ein festes Urtheil geht der Liebe, eine angestellte Vergleichung einer eingeräumten Bevorzugung vorauf, solche Urtheile bilden sich unbewußt, aber sie sind deshalb nicht weniger wirklich. Die wahre Liebe wird, man sage, was man wolle, von den Menschenstets in Ehren gehalten werden, denn wiewol uns ihr ungestümes Auftreten auf Irrwege zu führen vermag, wiewol sie nicht im Stande ist, von dem Herzen, das sie fühlt, alle hassenswerthen Eigenschaften fern zu halten, ja sogar dergleichen hervorrufen kann, so setzt sie demungeachtet immer höchst schätzenswerthe Eigenschaften voraus, ohne welche man überhaupt unfähig wäre, Liebe zu fühlen. Die Wahl, welche mit der Vernunft scheinbar im Widerspruche steht, ist gleichwol das Resultat derselben. Gerade deswegen, weil die Liebe, schärfere Augen hat als wir, und Beziehungen auffindet, die wir nicht zu entdecken im Stande sind, hat man ihr das Attribut der Blindheit gegeben. Demjenigen, welcher keinen Begriff von Werth oder Schönheit hätte, würden alle Frauen gleich gut erscheinen, und die erste, mit welcher er in Berührung träte, würde ihm auch stets die liebenswürdigste sein. Weit entfernt, daß die Liebe ihre Quelle in der Natur findet, ist sie vielmehr die Richtschnur und der Zügel der natürlichen Neigungen. In ihr liegt die Ursache, daß mit Ausnahme des geliebten Gegenstandes ein Geschlecht für das andere seine Bedeutung verliert.
Der Vorzug, welchen wir einräumen, wird nun aber auch von uns in Anspruch genommen. Die Liebe muß gegenseitig sein. Um Liebe zu gewinnen, muß man sich liebenswürdig machen; um den Vorzug zu erlangen, muß man sich liebenswürdiger als ein Anderer, liebenswürdiger als jeder Andere machen, wenigstens in den Augen des geliebten Gegenstandes. Darin liegt die Ursache, daß wir uns nach unseres Gleichen umzusehen und mit denselben zu vergleichen beginnen, darin liegt die Ursache des Wetteifers, der Nebenbuhlerschaft und der Eifersucht. Ein Herz voll überfließender Liebe wünscht sich mitzutheilen. Das Bedürfniß nach einer Geliebten ruft bald das nach einem Freunde hervor. Wer da fühlt, wie süß es ist, sich geliebt zu sehen, möchte von aller Welt geliebt sein; wenn aber Alle einen Vorzug beanspruchen, kann es nicht ausbleiben, daß sich bei Vielen Unzufriedenheit zeigt. Mit der Liebe und Freundschaft stellen sich gleichzeitig Zwistigkeiten, Feindschaft und Haß ein. Ich sehe, wie sich aus demSchooße so vieler verschiedener Leidenschaften das Vorurtheil einen unerschütterlichen Thron errichtet, und wie die Sterblichen, die sich seiner Herrschaft unterwerfen, in ihrem Stumpfsinne ihre eigene Existenz nur auf fremdes Urtheil gründen.
Führt diese Ideen weiter aus und ihr werdet sehen, was unserer Eigenliebe die Form verliehen hat, welche wir für ihre natürliche halten, und wie die Selbstliebe dadurch, daß sie aufhört ein absolutes Gefühl zu sein, bei großen Seelen in Stolz, bei kleinen in Eitelkeit ausartet, bei Allen sich aber stets auf Kosten des Nächsten nährt. Da Leidenschaften dieser Art ihren Keim nicht in dem Herzen der Kinder haben, so können sie in demselben auch nicht von selbst entstehen. Wir allein verpflanzen sie in dasselbe, und nur durch unsere Schuld schlagen sie darin Wurzel. Aber mit dem Herzen eines jungen Mannes verhält es sich nicht mehr in gleicher Weise; in diesem werden sie aller unserer Gegenbemühungen ungeachtet sich entwickeln. Es ist folglich Zeit, eine Aenderung in der Methode eintreten zu lassen.
Wir wollen mit einigen wichtigen Betrachtungen über den kritischen Zustand, um den
Weitere Kostenlose Bücher