Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
Bemühungen wenig geholfen haben, und wenn mir die Wahl frei stünde, wüßte ich in der That nicht, ob ich nicht den Illusionen der Vorurtheile den Vorzug vor denen des Stolzes geben sollte.
    Wirklich große Männer täuschen sich über ihre Ueberlegenheit nicht; sie sehen sie ein, sind sich ihrer bewußt und sind deshalb nicht weniger anspruchslos. Mit je größeren geistigen Gaben sie ausgestattet sind, desto mehr erkennen sie, wie viel ihnen noch fehlt. Das Gefühl ihres geistigen Übergewichts über uns macht sie weniger eitel, als sie vielmehr der Gedanke an ihre Mängel mit Demuth erfüllt, und in Bezug auf die besonderen Güter, die sie besitzen, sind sie viel zu verständig, als daß sie sich durch eine Gabe, die sie sich nicht selbst verliehen haben, zur Eitelkeit sollten verführen lassen. Ein redlicher Mann kann auf seine Tugend stolz sein, weil sie in ihm allein ihren Ursprung findet; aber worauf hat der Mann von Geist Ursache stolz zu sein? Was hat Racine dabei gethan, daß er nicht Pradon, was Boileau, daß er nicht Cotin ist?
    Hierbei kommt jedoch noch eine ganz andere Angelegenheit in Frage. Laßt uns nur immer bei der gewöhnlichen Ordnung der Dinge bleiben. Ich habe mir von vornherein in meinem Zöglinge weder ein außerordentliches Genie noch einen Idioten vorgestellt. Ich habe ihn mir unter den gewöhnlichen Geisteskindern ausgewählt, um den Nachweis zu liefern, welchen Einfluß die Erziehung auf den Menschen auszuüben vermag. Alle seltenen Fälle sind als Ausnahmen von der Regel zu betrachten. Wenn demnach inFolge meiner Sorgfalt Emil seiner Art und Weise zu sein, zu sehen, zu fühlen vor derjenigen anderer Menschen den Vorzug einräumt, so ist er in seinem Rechte; wenn er sich indeß um deswillen für ein Wesen höherer Art und mit reicheren Gaben von der Natur als sie ausgestattet hält, so hat er Unrecht, er täuscht sich und man muß ihn enttäuschen, oder vielmehr dem Irrthume vorbeugen, aus gerechter Furcht, daß man später nicht mehr Zeit haben möchte, ihn auszurotten.
    Mit Ausnahme der Eitelkeit gibt es keine Thorheit, von der man einen Menschen, der nicht ein vollkommener Narr ist, nicht zu heilen vermöchte. Was jene anlangt, so läßt sie sich nur durch die Erfahrung bessern, wenn überhaupt irgend etwas sie zu bessern im Stande ist; bei ihrer Entstehung läßt sich jedoch wenigstens ihr Umsichgreifen verhüten. Ergeht euch deshalb nicht erst in langen Declamationen, um dem Jünglinge zu beweisen, daß er Mensch wie alle Andern und denselben Schwachheiten unterworfen ist. Macht es ihm fühlbar, anders wird er es niemals erkennen. Hier befinde ich mich wiederum in dem Falle, wo ich genöthigt bin, eine Ausnahme von meinen Regeln zu machen; es liegt eine genügende Veranlassung vor, meinen Zögling absichtlich allen Zufällen auszusetzen, welche ihm den Beweis zu liefern im Stande sind, daß er nicht weiser ist als wir. Das Abenteuer mit dem Taschenspieler würde sich auf tausenderlei Weise wiederholen lassen; ich würde den Schmeichlern gestatten, ihm gegenüber alle ihre Kunst zu entfalten; ließe er sich durch junge Brauseköpfe zu irgend einem unüberlegten Schritte verleiten, so würde ich ihn der Gefahr nicht entziehen; verlockten ihn Gauner zum Spiele, so würde ich ihn ihnen überlassen, damit sie ihn prellen könnten. [14] Sie dürftenihm Weihrauch streuen, ihn rupfen und ausplündern, und hätten sie ihn ganz ausgezogen und lachten ihn dann noch schließlich aus, so würde ich mich in seiner Gegenwart bei ihnen für die Lehren bedanken, die sie die gute Absicht gehabt hätten ihm zu ertheilen. Nur vor den Schlingen der Buhlerinnen würde ich ihn sorgfältig bewahren. Nur die schonende Rücksicht würde ich ihm gegenüber beobachten, daß ich alle Gefahren, denen ich ihn aussetze, und alle Schande, mit der ich ihn sich bedecken ließe, mit ihm theilen würde. Stillschweigend, ohne Klage, ohne Vorwurf, ohne ihm auch nur ein Wort darüber zu sagen, würde ich Alles ertragen, und ihr könnt euch versichert halten, daß bei dieser sich stets gleich bleibenden Rücksicht Alles, was er mich um seinetwillen leiden sieht, mehr Eindruck auf sein Herz machen wird, als alle seine eigenen Leiden.
    Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf die falsche Art von Würde jener Erzieher aufmerksam zu machen, welche, um einfältiger Weise die Gelehrten zu spielen, ihre Zöglinge stets herabsetzen und ihre Lust darin suchen, sie beständig als Kinder zu behandeln und in Allem, was sie

Weitere Kostenlose Bücher