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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Hoffnung wiegt, die Frucht seiner Laster genießen zu können, fühlt sich gerade eben so beängstigt, als wenn er nicht zum Ziele gelangt wäre. Hat sich auch das Object geändert, so ist doch die Unruhe dieselbe geblieben. Mögen die Bösen immerhin mit ihrem Glücke prahlen und ihr Herz verhüllen, ihr Betragen verräth es ihnen zum Trotz, wie es in ihrem Innern aussieht. Aber um es wahrzunehmen, darf man freilich nicht ein gleiches Herz haben.
    Die Leidenschaften, die wir mit Anderen theilen, üben einen eigenen Zauber auf uns aus; diejenigen dagegen, die unser Mißfallen erregen, verletzen uns, und in Folge einer aus ihnen entspringenden Inconsequenz tadeln wir an Anderen, was wir doch gern nachahmen möchten. Widerwille und Illusionen sind unvermeidlich, wenn man sich gezwungen sieht, von Anderen das Böse zu dulden, welches man keinen Anstand nehmen würde selbst zu thun, wenn man sich an ihrer Stelle befände. Was gehört also zu einer sorgfältigen Beobachtung der Menschen? Ein großes Interesse, sie kennen zu lernen, eine vollkommene Unparteilichkeit in ihrer Beurtheilung, und ein Herz, das Empfänglichkeit genug besitzt, um alle menschlichen Leidenschaften begreifen zu können, und auch schon die genügende Ruhe erlangt hat, um sich nicht selbst von ihnen hinreißen zu lassen. Gibt es im Leben überhaupt einen Zeitpunkt, der diesem Studium besonders günstig ist, so ist es gerade der, welchen ich für Emil gewählt habe; in einer früheren Periode wären ihm die Menschen fremd gewesen, in einer späteren hätte er ihnen selbst geähnelt. Die öffentliche Meinung, deren Spiel er vor Augen hat, ist noch nicht im Stande gewesen, sich die Herrschaft über ihn anzueignen; die Leidenschaften, deren Wirkung er wahrnimmt, haben sein Herz noch nicht in Aufregung versetzt. Er ist Mensch, er nimmt an seinenBrüdern Antheil, er ist billig denkend, er urtheilt über seines Gleichen. Beurtheilt er sie aber richtig, so wird er sicherlich keine Sehnsucht empfinden, sich an die Stelle irgend eines derselben zu versetzen, denn da sich das Ziel aller Plagen, die sie sich selbst auferlegen, nur auf Vorurtheile gründet, die er nicht theilt, so erblickt er in demselben nur ein eitles Luftgespinnst. Sein Streben ist dagegen immer nur auf Erreichbares gerichtet. Von wem sollte er wol abhängen, da er sich selbst genügt und frei von Vorurtheilen ist? Er hat Arme, erfreut sich der Gesundheit [13] weiß Maß zu halten, hat wenig Bedürfnisse und besitzt die Mittel, dieselben zu befriedigen. In der unumschränktesten Freiheit aufgewachsen, vermag er sich kein größeres Uebel vorzustellen, als die Knechtschaft. Er beklagt diese bemitleidenswerthen Könige, welche nichts weiter als die Sklaven derer sind, die ihnen gehorchen; er bedauert die Armen, die sich fälschlich für Weise halten, trotzdem sie unaufhörlich die Kette ihres eitlen Ruhmes hinter sich herschleppen; er bemitleidet diese reichen Thoren, welche die Märtyrer ihrer Prunksucht sind, und diese geckenhaften Lüstlinge, welche, um den Schein zu verbreiten, daß sie Freude und Zerstreuung hätten, ihr ganzes Leben in Langeweile zubringen. Er würde sogar den Feind, der ihm Böses zufügte, bemitleiden, denn in seinen Schlechtigkeiten würde er eben sein Elend erblicken. Er würde sich sagen: «Dadurch, daß es diesem Menschen zum Bedürfnis geworden ist, mir Nachtheil zu bereiten, hat er sein Schicksal von dem meinigen abhängig gemacht.»
    Nur noch einen einzigen Schritt und wir haben das Ziel erreicht. Die Eigenliebe ist ein nützliches aber auch gefährliches Werkzeug. Häufig verletzt sie die Hand, die sich ihrer bedient, und selten ruft sie Gutes hervor, ohne daß es Schlimmes in seinem Gefolge hätte. Sobald Emil sich seines Ranges in der menschlichen Gesellschaft bewußt wird und die glücklichen Verhältnisse, in denen er sichbefindet, erkennt, so wird die Versuchung an ihn herantreten, seiner Vernunft für die Werke eures Geistes die Ehre zu geben und seine glückliche Lage seinem eigenen Verdienste beizumessen. Er wird sich sagen: »Ich bin weise und die Menschen sind Narren.« Während er sie bedauert, wird er sie zugleich verachten, während er sich beglückwünscht, wird er sich überschätzen, und da er einsieht, daß er glücklicher ist als sie, so wird er sich dieses Glückes auch für würdiger halten. Dieser Fehler ist aber am meisten zu fürchten, weil er am schwierigsten zu vertreiben ist. Verharrte er in diesem Irrthume, so würden ihm alle unsere

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