Emil oder Ueber die Erziehung
überlebte, ließ sich durch sein eigenes Weib dazu bestimmen, ein Ungeheuer als seinen Nachfolger einzusetzen. So gestaltetesich das Schicksal dieses Weltherrschers, der um seines Ruhmes und seines Glückes willen so hoch gefeiert wurde. Ist es denkbar, daß es auch nur ein Einziger von denen, die seinen Ruhm und sein Glück bewundern, um einen solchen Preis erkaufen möge?
Ich habe den Ehrgeiz als Beispiel hingestellt. Wer sich indeß mit dem Studium der Geschichte beschäftigt, um sich selbst kennen zu lernen und sich auf Kosten der Todten Weisheit zu erwerben, dem bietet das Spiel aller menschlichen Leidenschaften ähnliche Lehren dar. Die Zeit rückt jetzt heran, wo der junge Mann aus dem Leben des Antonius einen weit näher liegenden Unterricht schöpfen wird als aus dem des Augustus. Emil wird bei diesen ihm völlig unbekannten Gegenständen, die seinen Augen bei diesem Studium entgegentreten, kaum zur Besinnung kommen; aber trotzdem wird er, noch bevor die Leidenschaften in ihm erwachen, sich vor ihren Illusionen zu hüten wissen. Indem er die Einsicht gewinnt, daß dieselben zu allen Zeiten die Menschen verblendet haben, erkennt er darin eine Warnung, sich ihnen nicht hinzugeben und sich nicht ebenfalls von ihnen blenden zu lassen. [12] Diese Lehren sind, wie ich mir recht wohl bewußt bin, für meinen Zögling wenig geeignet; vielleicht kommen sie für sein Bedürfnis zu spät oder sind unzulänglich; indeß bitte ich eingedenk sein zu wollen, daß es auch gar nicht in meiner Absicht lag, sie aus diesem Studium zu gewinnen. Beim Beginn desselben hatte ich mir ein anderes Ziel gestellt, und ist dasselbe nicht völlig erreicht, so wird die Schuld sicherlich am Lehrer liegen.
Erwäget, daß, sobald die Eigenliebe einmal angefacht ist, das relative Ich sich unaufhörlich in das Spiel mischt, und daß der junge Mann niemals Andere beobachtet, ohne auf sich selbst zurückzukommen und sich mit ihnen zu vergleichen. Es handelt sich nun darum, zu erfahren, welchenRang er sich unter seinen Mitmenschen zuerkennen wird, nachdem er sie geprüft hat. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man bei der Art und Weise, in welcher man die jungen Leute Geschichte treiben läßt, sie gleichsam in alle die Persönlichkeiten, mit denen man sie bekannt macht, verwandelt, daß man sich Mühe gibt, sie bald Cicero, bald Trajan, bald Alexander sein zu lassen, wodurch man ihnen die Einkehr in sich selbst verleidet und einem Jeden das Bedauern einflößt, daß er nur er selbst ist. Diese Methode mag immerhin, wie ich gar nicht bestreiten will, gewisse Vortheile haben, wenn es aber bei diesen Vergleichen nur ein einziges Mal vorkommen sollte, daß mein Emil ein Anderer als er selbst zu sein wünschte, und wäre dieser Andere auch Sokrates oder Cato, so wäre Alles mißlungen. Wer erst beginnt, sich selbst fremd zu werden, wird sich auch bald ganz vergessen.
Es sind keineswegs die Philosophen, welche die meiste Menschenkenntniß besitzen; im Gegentheile, sie betrachten die Menschen nur durch die Vorurtheile der Philosophie, und ich wüßte keine andere Wissenschaft, die so voller Vorurtheile wäre. Ein Wilder fällt ein weit richtigeres Urtheil über uns als ein Philosoph. Letzterer fühlt seine Fehler, wird mit Unwillen über die unserigen erfüllt und spricht bei sich selbst: »Wir sind Alle schlecht.« Ersterer dagegen betrachtet uns ohne sich zu regen und sagt: »Ihr seid Narren.« Er hat Recht, denn Niemand thut das Schlechte um des Schlechten willen. Ein solcher Wilder ist nun mein Zögling, freilich mit dem Unterschiede, daß Emil, weil er mehr nachgedacht, mehr Ideen verglichen und unsere Fehler aus größerer Nähe angeschaut hat, sich mehr vor sich selbst in Acht nimmt und nur über das ihm Bekannte urtheilt.
Die Schuld, daß wir gegen die Leidenschaften Anderer aufgebracht sind, liegt in unseren eigenen. Unser Interesse flößt uns Haß gegen die Bösen ein; fügten sie uns keinen Schaden zu, so würden wir uns mehr zum Mitleid mit ihnen als zum Hasse gegen sie veranlaßt fühlen. Das Böse, welches schlechte Menschen uns zufügen, läßt uns dasjenige vergessen, was sie sich selber bereiten. Wir würdenihnen ihre Laster leichter verzeihen, wenn wir zu erkennen vermöchten, eine wie hohe Strafe sie für dieselben in ihrem eigenen Herzen finden. Die Schuld nehmen wir wahr, aber die Strafe entzieht sich unseren Blicken; die Vortheile sind nach Außen hin sichtbar, aber die Strafe vollzieht sich im Innern. Wer sich in der
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