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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ihnen zu thun gestatten, den zwischen sich und ihnen bestehenden Unterschied recht auffällig zu machen. Anstatt ihren jugendlichen Muth auf diese Weise niederzubeugen, dürft ihr nichts unterlassen, um ihre Seele zu erheben. Behandelt sie wie eures Gleichen, damit sie es wirklichwerden, und wenn sie sich noch nicht zu euch zu erheben vermögen, so laßt euch ohne Scham, ohne Bedenken zu ihnen herab. Vergeßt nicht, daß eure Ehre nicht mehr in euch, sondern in eurem Zöglinge liegt. Theilt seine Fehler, um sie ihm abzugewöhnen; nehmt seine Schande auf euch, um sie vergessen zu machen; ahmet jenem muthigen Römer nach, der, als er sein Heer fliehen sah und nicht im Stande war, es wieder zu sammeln, mit dem Rufe: »Sie fliehen nicht, sie folgen ihrem Führer,« an der Spitze seiner Soldaten selbst zu fliehen begann. Entehrte ihn dies etwa? Weit gefehlt! Er vermehrte gerade dadurch seinen Ruhm, daß er ihn auf diese Weise aufopferte. Die Macht der Pflicht, die Schönheit der Tugend reißen uns wider Willen zum Beifall hin und vernichten unsere unverständigen Vorurtheile. Wenn ich bei Erfüllung der Pflichten, die mir Emils Erziehung auferlegt, thätlich beleidigt würde, so würde ich, weit davon entfernt, mich dafür zu rächen, mich umgekehrt dessen überall rühmen, und ich bezweifle, daß es in der Welt einen Menschen von so niedriger Gesinnung [15] gäbe, daß er mir fortan nicht noch in höherem Grade seine Achtung zollte.
    Das soll aber nicht etwa heißen, daß der Zögling die Einsichten seines Lehrers für eben so beschränkt als seine eigenen halten solle und sich einbilden dürfe, derselbe sei der Verführung eben so leicht zugänglich als er. Eine solche Ansicht kann man sich wol bei einem Kinde gefallen lassen, welches, da es noch nicht zu beobachten und zu vergleichen versteht, einen Jeden auf gleiche Linie mit sich stellt, und nur denen, die sich in der That mit ihm auf gleiche Stufe zu stellen wissen, sein Vertrauen schenkt. Indeß ein junger Mann in Emils Alter und von seinem Verstande ist nicht mehr so thöricht, sich solchen Täuschungen hinzugeben, und es würde nicht gut sein, wenn er in dieselben verfiele. Das Vertrauen, welches er in seinen Erzieher setzen muß, ist von anderer Art; es muß sich auf die Autorität der Vernunft, auf die Ueberlegenheit derEinsichten und auf jene Vorzüge gründen, welche der junge Mann zu erkennen im Stande ist, und deren für ihn sich daraus ergebenden Nutzen er herausfühlt. Eine lange Erfahrung hat ihn von der Liebe seines Führers überzeugt, hat ihm die Gewißheit gegeben, daß dieser Führer ein kluger, aufgeklärter Mann ist, der nicht nur sein Glück will, sondern auch die Mittel kennt, es ihm zu bereiten. Er muß es einsehen, daß es zu seinem eigenen Heile dient, den Rathschlägen desselben zu folgen. Wenn sich nun der Lehrer in demselben Grade wie sein Schüler hintergehen ließe, so würde er dadurch das Recht verlieren, von diesem eine auf Achtung gegründete Willfährigkeit zu verlangen und ihm Lehren zu ertheilen. Noch weniger darf sich aber in dem Zöglinge die Vorstellung festsetzen, als ob ihn der Lehrer absichtlich in Schlingen fallen lasse oder seiner Einfalt wol gar selbst Fallstricke lege. Was läßt sich denn nun aber thun, um diese beiden Uebelstände gleichzeitig zu vermeiden? Das Allerbeste und Natürlichste: einfach und wahr sein wie er selbst; ihn über die Gefahren, denen er sich aussetzt, aufklären, sie ihm deutlich und handgreiflich zum Bewußtsein bringen, aber ohne Aufregung, ohne verdrießliche Vorstellungen, ohne pedantische Uebertreibung und vor Allem, ohne eure Rathschläge in die Form von Befehlen zu kleiden, bis sie zu solchen übergehen müssen und sich der befehlshaberische Ton als eine absolute Nochwendigkeit herausstellt. Besteht er trotzdem hartnäckig auf seinem Willen, wie es wol häufig vorkommen wird, so verschwendet an ihn kein Wort mehr, laßt ihm vollkommene Freiheit, folgt ihm, ahmt ihm nach, und zwar mit allem Frohsinn und aller Offenheit; laßt euch vollkommen gehen und belustigt euch, wenn es möglich ist, eben so wie er. Treten die Folgen zu sichtlich hervor, so seid ihr ja immer da, sie aufzuhalten, und in wie hohem Grade muß nicht der junge Mann, der sich inzwischen von eurer Voraussicht wie von euren gefälligen Bemühungen hat überzeugen können, von jener betroffen und zugleich von diesen gerührt werden! Seine Fehler bilden eben so viele Bänder, die er euch selbst in die Hand gibt, um ihn daran im

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