Emil oder Ueber die Erziehung
Nothfalle zurückzuhalten. Die Hauptkunst des Lehrersbesteht hierbei nun darin, die Gelegenheiten so herbeizuführen und die Ermahnungen in der Weise zu geben, daß er im Voraus weiß, wann der junge Mann nachgeben und wann er bei seinem Eigensinne beharren werde, damit ihm überall die Erfahrung eine Lehre ertheilen muß, ohne daß ihm der Lehrer doch allzu großen Gefahren Preis gibt.
Macht ihn auf seine Fehler aufmerksam, bevor er in dieselben verfällt; hat er dieselben aber einmal begangen, so enthaltet euch aller Vorwürfe; dadurch würdet ihr nur seine Eigenliebe entzünden und anfachen. Eine Belehrung, die verletzt, gewährt keinen Vortheil. Ich kenne nichts Thörichteres als den Vorwurf: »Ich hatte es dir ja gesagt!« Das beste Mittel das ihm Vorausgesagte wieder in seiner Erinnerung wach zu rufen ist, daß man sich den Anschein gibt, als habe man es vergessen. Im Gegentheile müßt ihr, sobald ihr bemerkt, daß er sich darüber beschämt fühlt, euch nicht Glauben geschenkt zu haben, euch Mühe geben, diese Demüthigung mit freundlichen Worten behutsam zu verwischen. Er wird euch sicherlich seine ganze Liebe zuwenden, wenn er bemerkt, daß ihr euch um seinetwillen vergeßt und daß ihr ihn, anstatt ihn durch euer Uebergewicht vollends zu verdunkeln, sogar tröstet. Fügt ihr aber seinem Verdruß über sein Benehmen noch Vorwürfe hinzu, so wird er seinen Haß auf euch werfen und es sich zum Gesetze machen, ferner nicht mehr auf euch zu hören, als ob er euch dadurch den Beweis liefern wollte, daß er eure Ansicht über die Wichtigkeit eurer Warnungen nicht theile.
Auch die Form, in der ihr ihm euren Trost aussprecht, kann für ihn zu einer nützlichen Belehrung werden, die eine um so größere Wirkung hervorbringen wird, je weniger Mißtrauen er hegt. Sagt ihr zu ihm: »Ich glaube annehmen zu können, daß tausend Andere den gleichen Fehltritt begehen,« so macht ihr ihm einen großen Strich durch seine Rechnung. Unter dem Anscheine, ihn zu bedauern, bessert ihr ihn. Denn für Jemanden, der sich für besser als andere Menschen hält, muß die Aufforderung, in dem Beispiele Anderer Trost zu suchen, eine höchst kränkendeEntschuldigung sein. Darin liegt das Zugeständniß, daß er höchstens behaupten könne, sie seien nicht besser als er.
Die Zeit der Fehler ist die Zeit der Fabeln. Dadurch, daß man den Schuldigen unter einer fremden Maske tadelt, nimmt man der Belehrung alles Verletzende, und ihre Wahrheit, die sich ihm bei der Nutzanwendung auf sich selbst aufdrängt, überzeugt ihn alsdann, daß die Fabel keine Lüge ist. Einem Kinde, welches man noch nie durch Lobsprüche getäuscht hat, fehlt für jene Fabel, welche ich oben weitläufig besprochen habe, jedes Verständniß; aber ein unbesonnenes Kind, welches sich schon einmal von einem Schmeichler hat hinter das Licht führen lassen, sieht ganz vortrefflich ein, daß der Rabe nur ein Einfaltspinsel war. Auf diese Weise folgert es aus einer Thatsache einen Grundsatz, und die Erfahrung, welche es sonst bald vergessen hätte, prägt sich vermittelst der Fabel seinem Gedächtnisse ein. Es gibt keine moralische Erkenntniß, welche man sich nicht durch fremde oder eigene Erfahrung anzueignen vermag. In solchen Fällen, wo die persönliche Einsammlung der Erfahrung mit Gefahr verknüpft ist, verdient es den Vorzug, dieselbe aus der Geschichte zu schöpfen. Wenn aber die eigene Einsammlung keine nachtheilige Folgen nach sich zieht, so ist es gut, den jungen Mann anzuhalten, sich die Erfahrung persönlich zu erwerben; darauf bringt man die besonderen Fälle, die ihm bisher noch unbekannt sind, unter Anwendung der Fabel auf Grundsätze zurück.
Darunter verstehe ich jedoch keineswegs, daß diese Grundsätze gleich entwickelt oder auch nur in Worte gekleidet sein sollen. Nichts ist unnützer und unverständiger als die den meisten Fabeln angehängte Moral, als ob sich diese Moral nicht durch die ganze Fabel dergestalt hindurchzöge oder doch wenigstens hindurchziehen sollte, daß sie der Leser deutlich herausfühlen muß. Weshalb also durch die dem Schlusse beigefügte Moral den Leser um das Vergnügen bringen, sie aus eigenem Nachdenken zu finden? Das rechte Lehrgeschick zeigt sich darin, daß man dem Schüler Gefallen am Unterrichte einzuflößenversteht. Um dies Gefallen aber in ihm hervorzurufen, darf sein Geist bei euren Vorträgen nicht in solcher Passivität erhalten werden, daß ihm durchaus nichts zu thun bleibt, um euch zu verstehen. Es ist eine
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