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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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unbedingte Notwendigkeit, daß die Eigenliebe des Lehrers auch stets der des Schülers einen gewissen Spielraum gestatte. Derselbe muß sich sagen können: »Ich begreife es; ich ergründe es; ich strenge mich an; ich belehre mich.« Eine der Ursachen, welche uns den Hanswurst in der italienischen Oper so langweilig erscheinen läßt, ist die stete Mühe, welche er sich gibt, dem Parterre die nur allzu verständlichen Plattheiten zu erklären. Ich wünsche nicht, daß ein Lehrer, noch weniger aber, daß ein Schriftsteller die Rolle des Hanswurstes spiele. Man muß sich freilich immer verständlich machen, allein man muß nicht immer Alles sagen. Wer sich völlig ausspricht, sagt wenig, denn schließlich hört man gar nicht mehr auf ihn hin. Was bedeuten diese vier Verse, welche Lafontaine der Fabel von dem sich aufblähenden Frosche hinzufügt? Hegt er etwa Furcht, daß man ihn nicht verstanden habe? Hat dieser große Maler erst nöthig, die Namen unter die Gegenstände zu schreiben, die er malt? Anstatt seine Moral dadurch zu verallgemeinern, bindet er sie an ganz bestimmte Fälle, beschränkt sie halb und halb auf die angeführten Beispiele und verhindert, daß man sie auf andere anwendet. Ehe man jungen Leuten die Fabeln dieses unnachahmlichen Schriftstellers in die Hände gibt, möchte ich sie von diesen Schlußversen befreit wissen, in welchen er sich die unfruchtbare Mühe gibt, das noch einmal zu erklären, was er bereits eben so klar als anmuthig gesagt hat. Versteht euer Zögling die Fabel nur mit Hilfe dieser Erklärung, so könnt ihr euch versichert halten, daß er sie auch nicht einmal durch dieses Hilfsmittel verstehen wird.
    Ferner würde es von Wichtigkeit sein, diesen Fabeln eine mehr didaktische und mit den wachsenden Einsichten und Gefühlen des Jünglings mehr in Einklang stehende Ordnung zu geben. Kann man sich wol etwas Widersinnigeres denken, als genau die numerische Ordnung des Buches, ohne Rücksicht auf Bedürfniß oder Gelegenheit,inne zu halten? Erst die Grille, dann der Rabe, darauf der Frosch, nun die beiden Maulthiere u.s.w. Bei diesen beiden Maulthieren fällt mir ein Kind ein, das ich einst kennen lernte. Man hatte es für das Finanzwesen bestimmt und ihm die wunderbarsten Vorstellungen von der Herrlichkeit seines künftigen Amtes in den Kopf gesetzt. Es las die erwähnte Fabel, lernte sie auswendig, sagte sie auf und declamirte sie hundert- und hundertmal, ohne derselben auch nur je den geringsten Einwand gegen den Beruf zu entnehmen, für welchen es erzogen wurde. Nicht nur bin ich niemals Zeuge gewesen, daß Kinder eine wirkliche Anwendung von den auswendig gelernten Fabeln gemacht hätten, sondern habe auch nie bemerkt, daß sich Jemand bemüht hätte, ihnen zu einer solchen Anwendung Anleitung zu geben. Die moralische Unterweisung muß den Vorwand für dieses Auswendiglernen abgeben. Mutter und Kind haben jedoch keinen andern Zweck im Auge, als die Aufmerksamkeit einer ganzen Gesellschaft auf Letzteres zu lenken, während es seine Fabeln hersagt. Auch vergißt es sie sämmtlich, wenn es größer wird, also gerade dann, wenn es sich nicht mehr um den Vortrag derselben, sondern um den aus ihnen zu ziehenden Gewinn handelt. Deshalb noch einmal: nur Erwachsene vermögen in den Fabeln Belehrung zu finden; und jetzt ist für Emil die Zeit herangekommen, damit den Anfang zu machen.
    Da es nicht in meiner Absicht liegt, alle Einzelheiten anzuführen, deute ich nur von ferne die Wege an, die von dem allein richtigen abführen, damit man sie vermeiden lerne. Ich meine, wenn euer Zögling dem von mir vorgezeichneten Wege folgt, so wird er sich die Kenntniß der Menschen und seiner selbst zu dem möglichst billigen Preise erwerben, und ihr werdet ihn in die Lage versetzen, beim Anblick der Spiele des Glückes neidlos das Geschick der Günstlinge desselben mit anzusehen und mit sich zufrieden zu sein, ohne sich für weiser als Andere zu halten. Anfangs habt ihr ihn handelnd auftreten lassen, um ihn zu einem urtheilsfähigen Zuschauer heranzubilden; jetzt handelt es sich um die Vollendung eures Werkes, denn während man vom Parterre aus die Gegenstände sieht, wiesie scheinen, erblickt man sie auf der Bühne selbst, wie sie wirklich sind. Um das Ganze zu überschauen, muß man sich auf den rechten Gesichtspunkt stellen, um jedoch die Einzelheiten zu unterscheiden, muß man nahe herantreten. Aber mit welchem Rechte kann sich ein junger Mann in die Händel der Welt mischen? Was gibt ihm die

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