Emil oder Ueber die Erziehung
daß sich das ganze menschliche Geschlecht, sich in völliger Täuschung über sich selbst befindend, zu solchen Kinderspielen erniedrigen kann. Aufrichtige Betrübniß wird ihn befallen, wenn er wahrnehmen muß, wie sich seine Brüder um eitler Träumewillen gegenseitig zerfleischen und sich in Bestien verwandeln, weil sie nicht verstehen, sich mit ihrer Menschenwürde zu begnügen.
Fehlt es dem Zöglinge nicht an natürlichen Anlagen, weiß der Lehrer die Lectüre mit einer gewissen Klugheit auszuwählen und versteht er ihm eine Anleitung zu den sich daran knüpfenden Betrachtungen zu geben, so wird diese Uebung für ihn sicherlich ein Cursus praktischer Philosophie werden, der jedenfalls besser und verständlicher ist, als alle die leeren Speculationen, durch welche man den Geist der jungen Leute in unseren Schulen verwirrt. Nachdem Cyneas den romanhaften Projecten des Pyrrhus aufmerksamen Ohres gefolgt ist, fragt er ihn, welches wirkliche Gut, dessen er nicht schon gegenwärtig ohne große Anstrengung genießen könne, er sich denn durch die Eroberung der Welt zu verschaffen hoffe. Wir erblicken darin einen glücklichen Gedanken, den man sich gefallen läßt. Mein Emil wird indeß darin eine sehr weise Reflexion finden, die auch er sofort gemacht hätte, und die sich niemals in seinem Geiste verwischen wird, weil sie darin keinem damit in Gegensatz stehenden Vorurtheile begegnet, welches ihren Eindruck zu verhindern vermöchte. Wenn er ferner bei der Lectüre der Biographie dieses Wahnsinnigen erfahren wird, daß alle diese großartigen Entwürfe doch kein anderes Resultat herbeiführten, als daß er den Tod durch die Hand eines Weibes erlitt, wird er dann wol noch diesem vermeintlichen Heldenmuthe seine Bewunderung zollen? Wird er nicht gerade umgekehrt in all den Heldenthaten dieses so großen Heerführers, in all den Intriguen dieses so großen Politikers nur Schritte erkennen, jenen unglückseligen Dachziegel aufzusuchen, der dazu bestimmt war, seinem Leben und seinen hoch hinausstrebenden Plänen durch einen ruhmlosen Tod ein Ende zu machen?
Allerdings sind nicht alle Eroberer getödtet worden; nicht alle Usurpatoren haben bei ihren Unternehmungen Schiffbruch gelitten; Manchen, die sich von den gängen und gäben Vorurtheilen haben anstecken lassen, erscheinen sie sogar glücklich; wer dagegen, vom äußeren Scheine ungeblendet, das Glück der Menschen nach ihrem Herzenszustandebeurtheilt, wird auch durch ihren scheinbaren Erfolg ihr Elend hindurchleuchten sehen. Es wird sich ihm die Beobachtung aufdrängen, daß sich mit ihrem Glücke auch ihre Wünsche und ihre sie aufreibenden Sorgen erweitern und vergrößern; er wird bemerken, wie sie im übereilten Vorwärtsschreiten außer Athem kommen, ohne je zum Ziele zu gelangen; sie werden in seinen Augen jenen unerfahrenen Reisenden gleichen, die zum ersten Male eine Alpenreise machen und mit jedem Berge die Alpen zu überschreiten glauben, indeß sobald sie den Gipfel erklommen haben, zu ihrer großen Entmuthigung noch weit höhere Berge vor sich erblicken.
Nachdem Augustus seine Mitbürger unterjocht und seine Rivalen vernichtet hatte, regierte er noch vierzig Jahre lang das größte Reich, welches je existirt hat. Konnte indeß diese unermeßliche Macht es verhindern, daß er im Schmerze über den Verlust seiner Legionen unter Varus Führung mit dem Kopfe gegen die Wand rannte und seinen weiten Palast mit seinem Klagegeschrei erfüllte? Hätte er aber auch alle seine Feinde besiegt, welchen Vortheil würden ihm seine eitlen Triumphe gewährt haben, so lange Uebel aller Art stets von Neuem um ihn emporschossen, so lange seine liebsten Freunde Anschläge auf sein Leben machten und ihm die Schande oder der Tod aller seiner Verwandten die bittersten Thränen erpreßten? Der Unglückselige wollte die Welt beherrschen und verstand nicht einmal die Herrschaft in seinem eigenen Hause auszuüben! Und welche Folgen entstanden aus dieser Fahrlässigkeit? Er sah seinen Neffen, seinen Adoptivsohn, seinen Schwiegersohn in der Blüte ihrer Jahre dahinsterben; sein Enkel wurde dazu getrieben, die Wollhaare seines Bettes zu essen, um nur sein elendes Leben noch um einige Stunden zu verlängern. Seine Tochter und seine Enkelin starben, nachdem sie ihn mit ihrer Schande bedeckt hatten, die Eine auf einer wüsten Insel im tiefsten Elend an Hunger, die Andere im Gefängniß durch die Hand eines Henkerknechts. Er selbst endlich, der seine ganze unglückliche Familie allein
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