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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ihn nur mit furchtbarer Schnelligkeit seinem Verderben entgegen und hatten ihn fast schon so weit gebracht, daß er in den Sitten zu einem Bettler herabsank, und in ihm den Grund zu der Moral eines Atheisten gelegt.«
    »Obgleich das Uebel fast unvermeidlich einen traurigen Ausgang nehmen zu müssen schien, so hatte es doch bis jetzt seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Der junge Mann besaß Kenntnisse, und seine Erziehung war nicht vernachlässigt worden. Er stand in jenem glücklichen Alter, in welchem das gährende Blut die Seele zu erwärmen beginnt, ohne sie den Leidenschaften der Sinne zu unterwerfen. Die seinige hatte noch ihre ganze Spannkraft. Eine angeborne Schamhaftigkeit und eine gewisse Schüchternheit des Charakters vertraten bei ihm den Zwang und verlängerten für ihn jene Lebensperiode, in welcher ihr euren Zögling euch so sorgfältig zu erhalten bemüht. Das hassenswerthe Beispiel einer thierischen Entartung und eines reizlosen Lasters war so weit davon entfernt gewesen, seine Einbildungskraft anzufachen, daß es dieselbe vielmehr ertödtethatte. Durch Widerwille und Ekel, die ihm lange Zeit die Tugend ersetzten, vermochte er seine Unschuld zu bewahren; sie sollte nur süßeren Verführungen unterliegen.«
    »Der Geistliche erkannte nicht nur die Gefahr, sondern auch die Mittel zur Abwehr. Die Schwierigkeiten schreckten ihn durchaus nicht zurück; er fand Gefallen an seinem Werke und beschloß es zu vollenden und das Opfer, welches er der Versunkenheit und Schande entrissen hatte, in den Schooß der Tugend zurückzuführen. Nur mit größter Behutsamkeit ging er bei Ausführung seines Planes zu Werke. Der gute Zweck belebte seinen Muth und gab ihm Mittel ein, die seines edlen Strebens würdig waren. Welchen Erfolg er auch erzielen mochte, er war sicher, seine Zeit nicht verloren zu haben. Wer nur Gutes bezweckt, muß seine Bemühungen stets mit Erfolg gekrönt sehen.«
    »Sein Erstes war, sich das Vertrauen des Proselyten dadurch zu gewinnen, daß er auf seine Wohlthaten keinen Preis setzte, daß er ihm nicht lästig fiel, ihm keine langen Predigten hielt, nie über die Grenzen seiner Fassungskraft hinausging und sich nicht scheute sich zu erniedrigen, um sich ihm so viel als möglich gleichzustellen. Es mußte meinem Bedünken nach in der That ein ergreifendes Schauspiel darbieten, mit anzusehen, wie sich ein ernster Mann zum Kumpane eines tief gesunkenen Menschen hergab und die Tugend den Ton ungebundener Zügellosigkeit annahm, um desto sicherer zum Ziele zu gelangen. Als der leichtsinnige Mensch endlich Vertrauen zu ihm faßte und ihm sein Herz ausschüttete, hörte ihn der Priester an und suchte ihm durch freundliches Entgegenkommen sein Geständniß zu erleichtern. Ohne das dabei vorkommende Böse zu billigen, legte er doch ein lebhaftes Interesse für Alles an den Tag. Niemals hemmte er durch unbesonnenen Tadel sein Geplauder oder machte ihm das Herz schwer. Das Vergnügen, mit welchem derselbe seine Worte aufgenommen glaubte, erhöhte noch die Freude, von der er bei diesen Herzensergießungen beseelt war. So beichtete er Alles, was er auf dem Herzen hatte, ohne sich doch seiner Beichte bewußt zu werden.«
    »Nachdem der Priester über seine Gesinnungen und seinen Charakter ins Klare gekommen war, erkannte er deutlich, daß derselbe, obwol man ihn für sein Alter nicht unwissend nennen konnte, doch alles das vergessen hatte, was für ihn zu wissen von größter Wichtigkeit war, und daß die Schmach, in welche er durch die Schuld des Schicksals versunken war, in ihm jedes wahre Gefühl für Gut und Böse erstickt hatte. Es gibt einen Grad von Verkommenheit, welcher der Seele alles Leben entzieht. Die innere Stimme vermag sich dem nicht vernehmbar zu machen, der nur an die Sorge für seine Ernährung zu denken hat. Um den jungen Unglücklichen vor diesem moralischen Tode, dem er so nahe war, zu bewahren, suchte der Priester zunächst wieder Selbstliebe und Selbstachtung in ihm anzufachen; er malte ihm aus, eine wie glückliche Zukunft er sich durch eine geschickte Anwendung seiner Talente bereiten könnte, und verstand es durch die Erzählung guter Handlungen, welche Andere ausgeübt hatten, sein Herz wieder für alles Edele zu erwärmen; indem er ihn mit Bewunderung für die Personen erfüllte, welche so edel gehandelt hatten, rief er in ihm zugleich den Wunsch hervor, ähnliche Thaten zu vollbringen. Um ihn nach und nach von seinem müßigen und unstäten Leben loszureißen, verwandte er

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