Emil oder Ueber die Erziehung
ihm mein lebhaftes Verlangen aus, ihn zu hören. Die Zusammenkunft wurde deshalb auch nur bis zum folgenden Morgen hinausgeschoben. Wir befanden uns gerade im Sommer; schon bei Tagesanbruche erhoben wir uns. Er führte mich zur Stadt hinaus auf einen hohen Hügel, dessen Fuß vom Po bespült wurde, den man zwischen fruchtbaren Ufern majestätisch dahinströmen sah. In weiter Ferne wurde die Landschaft von der unermeßlichen Alpenkette umrahmt. Hier und daglitten schon einige Strahlen der aufgehenden Sonne über die Ebenen, und indem die Bäume, Hügel und Häuser ihre langen Schatten auf die Fluren warfen, wurde das vollendetste Gemälde, welches das menschliche Auge zu fesseln vermag, durch den tausendfachen Wechsel von Licht und Schatten noch mehr gehoben. Man hätte glauben können, die Natur wolle vor unseren Augen ihre ganze Pracht entfalten, um uns dadurch gleichsam den Text für unser Gespräch zu liefern. Nachdem wir das liebliche Bild einige Zeit stillschweigend betrachtet hatten, hob der Mann des Friedens folgendermaßen zu erzählen an:
Glaubensbekenntniß des savoyischen Vicars.
Mein Kind, erwarten Sie von mir weder gelehrte Abhandlungen, noch tief eingehende Erörterungen. Ich bin kein großer Philosoph und mache mir auch nichts daraus, daß ich es nicht bin. Indeß kann ich mich bisweilen auf mein gesundes Urtheil verlassen und liebe unter allen Umständen die Wahrheit. Ich beabsichtige nicht mit Ihnen zu disputiren, ja ich will nicht einmal versuchen, Sie zu meiner Ansicht herüberzuziehen. Es genügt mir, Ihnen das darzulegen, was ich in aller Einfalt meines Herzens denke. Befragen Sie während meiner Mittheilungen ihr eigenes Herz, das ist Alles, was ich verlange. Irre ich mich, so geschieht es wenigstens in gutem Glauben, und das ist ausreichend, daß mir mein Irrthum nicht zum Verbrechen angerechnet werden kann. Würden Sie sich in ähnlicher Weise täuschen, so würde dies durchaus nicht schlimm sein. Stellen sich meine Gedanken jedoch als richtig heraus, so sind wir ja Beide mit Vernunft begabt und haben das nämliche Interesse, auf sie zu hören. Weshalb sollten Sie nicht eben so denken können wie ich?
Ich bin in Armuth und in einer Bauernhütte geboren; mein Stand bestimmte mich offenbar dazu, das Land zu bebauen; aber man hielt es für zweckmäßiger, daß ich mir mein Brod im geistlichen Stande verdienen lernte, und fand Mittel, mich studiren zu lassen. Sicherlich dachten weder meine Eltern noch ich daran, daß ich es mir in dieser Stellung zur Aufgabe machen müßte, zu erforschen,was gut, wahr und nützlich ist, sondern unser Augenmerk drehte sich ausschließlich um den Wissensgrad, den ich mir aneignen müßte, um die Weihe erhalten zu können. Ich lernte, was man von mir verlangte, redete, wie man es haben wollte, legte das Gelübde ab, wie man es mir vorsprach, und endlich war der Priester fertig. Aber bald genug merkte ich, daß ich, als ich das Gelübde abgelegt hatte, nicht als Mann zu leben, mehr versprochen hatte, als ich halten konnte.
Man sucht uns einzureden, daß das Gewissen das Ergebniß der Vorurtheile sei; jedoch weiß ich aus eigener Erfahrung, daß dasselbe allen Menschengesetzen gegenüber durchaus die strenge Befolgung der Naturordnung verlangt. Ob man uns dies oder jenes verbietet, stets wird uns das Gewissen für Alles, was uns die wohlgeordnete Natur gestattet oder wol gar vorschreibt, nur äußerst geringe Vorwürfe machen. O lieber junger Mann, zu Ihren Sinnen hat sie noch nicht gesprochen, leben Sie noch recht lange in dem glücklichen Zustande, wo Ihre Stimme die Stimme der Unschuld ist. Seien Sie dessen stets eingedenk, daß man sich noch mehr an ihr versündigt, wenn man ihr zuvorkommt, als wenn man sie bekämpft; erst muß man ihr widerstehen lernen, damit man daraus die Kenntniß schöpfe, wenn man ihr ohne Sünde nachgeben darf.
Von Jugend auf habe ich die Ehe als die vorzüglichste und heilsamste Institution der Natur hochgeachtet. Nachdem ich freiwillig auf das Recht verzichtet hatte, eine Ehe einzugehen, beschloß ich, sie nun auch in keiner Weise zu entweihen, denn trotz meiner Schulbildung und meiner Studien hatte ich meinem Geiste, da ich beständig ein gleichmäßiges und einfaches Leben geführt hatte, doch die ganze Klarheit seiner ursprünglichen Einsichten bewahrt. Die Grundsätze der Welt hatten sie in keiner Hinsicht verdunkelt, und meine Armuth hielt die Versuchungen von mir fern, die uns zu den Sophismen des Lasters führen.
Aber gerade
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