Emil oder Ueber die Erziehung
Rechtschaffenheit und Scharfsinn. Da ich mit ihm in größter Vertraulichkeit lebte, lernte ich ihn täglich höher achten, und die große Güte, die er gegen mich an den Tag gelegt, hatte ihm mein ganzes Herz gewonnen. Mit einer gewissen neugierigen Unruhe wartete ich auf den Augenblick, wo ich erfahren sollte, auf welchen Grundsatz er die Gleichmäßigkeit eines so eigentümlichen und ausgezeichneten Lebens gründete.«
»Dieser Augenblick erschien indeß nicht so bald. Bevor er sich seinem Schüler ganz enthüllte, bemühte er sich, den Samen der Vernunft und Güte, welchen er in seine Seele gestreut hatte, emporkeimen zu lassen. Was sich in mir am schwierigsten wollte ausrotten lassen, war ein stolzerMenschenhaß, eine gewisse Bitterkeit gegen die Reichen und Glücklichen in dieser Welt, als ob sie sich nur auf meine Kosten dazu hätten emporschwingen können und als ob durch ihr vermeintliches Glück das meinige geschmälert würde. Die thörichte Eitelkeit der Jugend, welche gegen jede Demüthigung ankämpft, erhöhte diese gehässige Stimmung nur in allzu hohem Grade, und da die Eigenliebe, die mein Mentor sich wieder rege in mir zu machen bemühte, mir ein Gefühl des Stolzes einflößte, so machte mir dieselbe die Menschen in meinen Augen noch verächtlicher und wurde die Ursache, daß zu meinem Hasse gegen sie noch die Verachtung hinzutrat.«
»Ohne diesem Stolze direct entgegenzutreten, trug er doch dafür Sorge, daß derselbe nicht in Verhärtung des Gemüths ausarten konnte, und ohne mir die Selbstachtung zu rauben, nahm er ihr doch einen Theil der Verachtung meines Nächsten, der sich sonst mit derselben gepaart hatte. Dadurch, daß er regelmäßig den leeren Schein entfernte und mir die eigentlichen Uebel nachwies, welche sich unter jenem verbergen, lehrte er mich die Fehler meiner Mitmenschen bedauern, an ihren Leiden Antheil nehmen und sie mehr beklagen als beneiden. Da er in Folge des tiefen Gefühls seiner eigenen Schwächen von innigem Mitleid mit den menschlichen Schwächen bewegt war, so betrachtete er die Menschen in jeder Beziehung als Opfer ihrer eigenen oder fremder Fehler; er erkannte, wie die Armen unter dem Joche der Reichen, die Reichen dagegen unter dem Joche ihrer Vorurtheile seufzten. Glauben Sie mir, sagte er, unsere Illusionen sind so weit davon entfernt, uns unsere Uebel zu verhüllen, daß sie dieselben vielmehr vermehren, indem sie an sich werthlosen Dingen einen hohen Werth beilegen und die falsche Vorstellung in uns erregen, daß wir tausenderlei Dinge entbehren müßten, deren Mangel wir sonst gar nicht fühlen würden. Der Friede der Seele besteht in der Verachtung alles dessen, was ihn zu stören im Stande ist. Der Mensch, welcher das Leben am höchsten schätzt, versteht es am wenigsten zu genießen, und wer dem Glücke am gierigsten nachjagt, wird sich stets am unglücklichsten fühlen.«
»O, was für traurige Bilder! rief ich mit Bitterkeit aus. Wozu frommt es, geboren zu werden, wenn wir uns Alles versagen müssen? Und wer vermag glücklich zu sein, wenn wir das Glück selbst verachten müssen? Ich! erwiderte eines Tages der Geistliche in einem Tone, der einen tiefen Eindruck auf mich machte. Wie? Sie glücklich? Sie, der sich in einer so wenig günstigen Lage befindet, der mit Armuth zu kämpfen hat, der in der Verbannung lebt und sich Verfolgungen ausgesetzt sieht, Sie sind glücklich? Und auf welchem Wege sind Sie dazu gelangt? – Das, mein Sohn, entgegnete er, will ich Ihnen gern mittheilen.«
»Darauf sagte er, nachdem ich mit meinen Bekenntnissen ihm gegenüber nicht zurückgehalten hätte, wollte er mir auch die seinigen ablegen. Ich werde Ihnen, sagte er, indem er mich umarmte, mein ganzes Herz ausschütten. Sie sollen mich, wenn auch nicht so wie ich bin, doch wenigstens so, wie ich mich selbst erblicke, kennen lernen. Sobald Sie mein Glaubensbekenntniß völlig angehört und meinen Seelenzustand genau erfahren haben werden, so werden Sie auch begreifen, weshalb ich mich glücklich schätze, und einsehen, was Sie selbst zu thun haben, um es zu werden, wenn Sie meinen Ansichten huldigen. Diese Geständnisse lassen sich jedoch nicht in einem Augenblicke ablegen. Es gehört Zeit dazu, Ihnen Alles, was ich über das Menschenloos und über den wahren Werth des Lebens denke, auseinander zu setzen. Lassen Sie uns eine Stunde und einen Ort bestimmen, die sich am besten für uns eignen, um in ungestörter Ruhe diese Unterhaltung führen zu können.«
»Ich sprach
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