Emil oder Ueber die Erziehung
ihn zur Anfertigung von Auszügen aus auserlesenen Büchern, und indem er sich stellte, als bedürfe er dieser Auszüge, gab er dem edelen Gefühle der Dankbarkeit in ihm Nahrung. Er belehrte ihn mittelbar durch diese Bücher und flößte ihm wieder eine gute Meinung von sich selbst ein, damit er sich nicht für ein zu allem Guten unfähiges Wesen halten und sich des Gedankens entschlagen sollte, sich in seinen eigenen Augen verächtlich zu machen.«
»Die Mittheilung eines an und für sich unbedeutenden Vorfalles wird ausreichend sein, damit sich der Leser ein richtiges Urtheil über die große Kunst bilden könne, welche dieser wohlthätige Mann anwandte, um das Herz seines Schülers unmerklich aus der Erniedrigung zu erheben, ohne daß es den Anschein erweckte, er ginge darauf aus, ihm eine Belehrung zu ertheilen. Der Geistliche war vonso anerkannter Rechtschaffenheit und von so unzweifelhafter Menschenkenntniß, daß sich mehrere Personen behufs Vertheilung ihrer Almosen lieber an ihn als an die reichen Stadtpfarrer wandten. Als man ihm eines Tages wieder einiges Geld zu diesem Zwecke übergeben hatte, war der junge Mensch unwürdig genug, ihn um einen Theil desselben anzusprechen, da er ja auch zu den Armen gehörte. »Nein«, versetzte dieser jedoch, »wir sind Brüder, Sie gehören mir an, und ich darf, wo es sich um meinen persönlichen Vortheil handelt, nichts von dem mir anvertrauten Gute anrühren.« Darauf schenkte er ihm aus seinen eigenen Mitteln so viel Geld, als er verlangt hatte. Lehren solcher Art verfehlen auf das Herz junger Leute, welche noch nicht völlig verdorben sind, selten ihre Wirkung.«
»Ich bin es aber müde, immer in der dritten Person zu reden, und es ist dies auch eine völlig überflüssige Mühe, denn ihr werdet wol schon vermuthen, liebe Mitbürger, daß ich selbst dieser unglückliche Flüchtling bin. Ich denke, die Verirrungen meiner Jugend liegen mir jetzt fern genug, daß ich es wagen darf, sie einzugestehen; und die Hand, die mich ihnen entriß, verdient es gewiß, daß ich ihren Wohlthaten, selbst auf die Gefahr hin, mich einer geringen Beschämung auszusetzen, wenigstens einige Ehre erweise.«
»Am auffallendsten war mir jedoch, daß ich in dem Privatleben meines würdigen Lehrers eine Tugend ohne Heuchelei, eine Menschlichkeit ohne Schwäche entdeckte, daß seine Reden immer aufrichtig und einfach waren und daß seine Handlungen stets seinen Worten entsprachen. Nie habe ich die Wahrnehmung gemacht, daß er sich darum bekümmert hätte, ob diejenigen, welchen er Handreichung leistete, auch zur Vesper gingen, ob sie fleißig beichteten, an den vorgeschriebenen Tagen fasteten oder sich der Fleischspeisen enthielten, noch daß er ihnen andere dergleichen Bedingungen auferlegt hätte, ohne welche man bei Frömmlern, und sollte man auch im Elende zu Grunde gehen, auf keine Hilfe rechnen kann.«
»Durch diese Beobachtungen ermuthigt und weit davonentfernt, vor seinen Augen mit dem erkünstelten Eifer eines Neubekehrten zu prunken, verhehlte ich ihm meine Denkweise keineswegs und fand nicht, daß ich dadurch Anstoß bei ihm erregte. Bisweilen hätte ich allerdings in Versuchung gerathen können, zu mir zu sagen: Er hält mir meine Gleichgiltigkeit gegen den Cultus, zu dem ich übergetreten bin, um deswillen zu Gute, weil er mich auch von derselben Gleichgiltigkeit gegen denjenigen erfüllt sieht, in dem ich geboren bin. Er begreift, daß meine Geringachtung nicht aus Parteilichkeit entsteht. Was für Gedanken mußten aber in mir aufsteigen, wenn ich ihn bisweilen Dogmen billigen hörte, welche denen der römisch-katholischen Kirche völlig widersprachen, und er sich den Anschein gab, als ob alle Ceremonien derselben in seinen Augen nur einen geringen Werth hätten? Hätte ich ihn nicht in der Beobachtung derselben Gebräuche, denen er so wenig Wichtigkeit beizulegen schien, so gewissenhaft gesehen, so würde ich ihn für einen heimlichen Protestanten gehalten haben; da ich mir aber die Ueberzeugung verschafft hatte, daß er seine priesterlichen Pflichten ohne Zeugen mit der nämlichen Pünktlichkeit erfüllte, mit denen er sie öffentlich beobachtete, so wußte ich nicht mehr, welches Urtheil ich mir über diese Widersprüche bilden sollte. Abgesehen von dem einen Fehler, welcher die Ursache seines Unglücks war und unter dessen Folgen er noch immer zu leiden hatte, war sein Leben exemplarisch, zeigte er sich in seinem Wandel untadelhaft, bekundeten seine Reden
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