Emil oder Ueber die Erziehung
Bewegung erhalten. Kaum sind sie aber in das Jünglingsalter getreten, so werden sie gesetzt und in sich gekehrt und betheiligen sich höchstens noch an ernsten und mit Gefahren verknüpften Spielen.« [53] Da Emil in aller Freiheit junger Bauern und Wilden aufgewachsen ist, so muß auch bei ihm, wenn er heranwächst, eine gleiche Veränderung und ein gleicher Stillstand wie bei jenen eintreten. Der ganze Unterschied besteht darin, daß seine Thätigkeit nicht nur Spiel und Ernährung zum Zwecke hat, sondern daß er unter seinen Arbeiten und Spielen auch denken lernte. Hat er nun auf diesem Wege jenesZiel erreicht, so ist auch schon die Neigung in ihm vorhanden, die Bahn zu wandeln, welche ich ihn jetzt führen will. Die Gegenstände des Nachdenkens, die ich ihm darbiete, reizen seine Wißbegierde, weil sie an sich schön und für ihn völlig neu sind, und weil er im Stande ist, sie zu begreifen. Wie sollten sich dagegen eure jungen Leute, die sich durch eure faden Lectionen, durch eure langathmigen Moralpredigten und euer ewiges Katechismuslernen gelangweilt und ermattet fühlen, nicht gegen eine Geistesbildung sträuben, die man ihnen so abstoßend gemacht, sich nicht gegen die lästigen Vorschriften auflehnen, mit denen man sie unaufhörlich überschüttet hat, sich nicht gegen die Betrachtungen über den Schöpfer ihres Daseins verschließen, den man ihnen stets als Feind ihrer Freuden dargestellt hat? Alles dies hat ihnen nur Widerwillen, Abneigung und Ekel eingeflößt. Der Zwang hat sie davon zurückgeschreckt. Welches Mittel sollte nun, wo sie anfangen über sich selbst zu bestimmen, sie wol dazu bewegen können, daß sie sich auch ferner damit beschäftigen? Was ihr Wohlgefallen erregen soll, muß neu sein; mit dem, worüber man mit Kindern spricht, muß man sie verschonen. Mit meinem Zöglinge verhält es sich eben so. Sobald er ein Mann wird, rede ich mit ihm wie mit einem Manne und sage ihm nur solche Dinge, die ihm neu sind. Gerade, weil Andere sie langweilig finden, müssen sie seinem Geschmacke zusagen.
Indem ich auf diese Weise den Fortschritt der Natur zu Gunsten der Vernunft zurückhalte, lasse ich Emil doppelt Zeit gewinnen. Habe ich denn diesen Fortschritt aber in der That aufgehalten? Nein, ich habe nur die Einbildungskraft verhindert, ihn zu beschleunigen; ich habe durch Lehren anderer Art den unzeitigen Lehren, welche der Jüngling von anderer Seite her erhält, das Gleichgewicht gehalten. Wenn wir ihn, sobald ihn der Strom unserer erziehlichen Mittel mit fortreißt, durch andere Erziehungsmittel in eine entgegengesetzte Richtung hineindrängen, so heißt dies nicht, ihn von seinem rechtmäßigen Platze entfernen, sondern auf demselben erhalten.
Endlich erscheint nun aber auch der richtige Zeitpunktder Natur; er muß kommen. Da der Mensch sterben muß, so muß er sich auch fortpflanzen, damit die Gattung fortdauere und die Weltordnung erhalten werde. Sobald euch nun die Zeichen, welche ich oben besprochen habe, zu erkennen geben, daß der kritische Augenblick sich naht, so gebet ihm gegenüber sofort den bisherigen Ton und zwar für immer auf. Er steht zwar noch unter eurer Obhut, ist aber nicht mehr euer Zögling. Er ist ein Mann, behandelt ihn deshalb auch von nun an als solchen.
Wie! Ich soll auf meine Autorität verzichten, wenn ich sie gerade am nöthigsten gebrauche? Ich soll den so eben erst in das mannbare Alter eingetretenen Jüngling in dem Augenblicke sich selbst überlassen, wo er sich am wenigsten selbst zu leiten versteht und am meisten zu Ausschweifungen geneigt ist? Ich soll mich meiner Rechte begeben, wenn es für ihn von der größten Bedeutung ist, daß ich dieselben in Anwendung bringe? Deiner Rechte? Wer redet denn von Verzichtleistung auf dieselben? Jetzt erst beginnen sie für denselben. Was ihr bis jetzt von ihm erlangtet, habt ihr nur auf dem Wege der Gewalt oder der List erreicht. Autorität und Gebote der Pflicht waren ihm unbekannt. Nur durch Anwendung von Zwang oder Täuschung konnte man ihn zum Gehorsam bringen. Nun überschauet aber die vielen neuen Bande, mit denen ihr sein Herz umgeben habt! Vernunft, Freundschaft, Dankbarkeit, tausendfache Regungen der Zärtlichkeit sprechen in einem Tone zu ihm, den er nicht mißverstehen kann. Das Laster hat ihn gegen ihre Stimme noch nicht taub gemacht. Bis jetzt ist er nur für die natürlichen Leidenschaften empfänglich. Die Hauptleidenschaft, die Liebe zu sich selbst, liefert ihn euch in die Hände, eben so die
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