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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Herz zufrieden. Wenn ich eine neue Prüfung meiner Ansichten vornehmen wollte, so würde ich nicht mit einer reineren Liebe zur Wahrheit an dieselbe herantreten, und mein jetzt schon weniger thätiger Geist würde auch weniger im Stande sein, sie zu erkennen. Ich werde bleiben, wie ich bin, aus gerechter Furcht, es könnte die Neigung, mich Betrachtungen hinzugeben, allmählich in eine müßige Leidenschaft ausarten, mich in der Ausübung meiner Pflichten erkalten und in meine frühere Zweifelsucht zurücksinken lassen, ohne daß ich Kraft fände, dieselbe siegreich zu bekämpfen. Mehr als die Hälfte meines Lebens ist abgelaufen; ich habe nur noch gerade so viel Zeit, als ich gebrauche, um aus den Lehren der Vergangenheit Nutzen zu ziehen und meine Irrthümer durch meine Tugenden wieder gut zu machen. Irre ich, so geschieht es wider Willen. Derjenige, welcher im Innersten meines Herzens liest, weiß gar wohl, daß ich meine Blindheit nicht liebe. Außer Stande, mich durch eigene Einsichten aus ihr emporzuarbeiten, bleibt mir als einziges Mittel, Befreiung von ihr zu finden, ein fleckenloses Leben, und wenn Gott dem Abraham selbst aus Steinen Kinder zu erwecken vermag, so ist jeder Mensch zu der Hoffnung berechtigt, er werde erleuchtet werden; wenn er sich dessen würdig macht.
    Wenn meine Betrachtungen Sie dazu bewegen, so zu denken wie ich, so daß Sie sich meine Ansichten aneignen und wir in unserm Glaubensbekenntnisse völlig übereinstimmen, dann gebe ich Ihnen folgenden Rath: Setzen Sie Ihr Leben nicht mehr den Versuchungen des Elends und der Verzweiflung aus. Führen Sie nicht länger ein schimpfliches Leben in Abhängigkeit von Anderen, stehen Sie davon ab, es durch armseliges Bettelbrod zu fristen. Kehren Sie in Ihr Vaterland zurück, nehmen Sie die Religion Ihrer Väter wieder an, befolgen Sie die Vorschriften derselben mit aller Aufrichtigkeit Ihres Herzens und sagen Sie sich nie wieder von ihr los. Sie ist sehr einfach und sehr heilig. Unter allen Religionen der Erde halte ich sie für diejenige, deren Moral die reinste ist, und welche die Vernunft am besten zu befriedigen vermag. Wasdie Reisekosten anlangt, so seien Sie deshalb unbesorgt; dieselben werden aufgebracht werden. Eben so wenig überlassen Sie sich einer falschen Scham, als ob Ihre Rückkehr demüthigend für Sie wäre; das Begehen eines Fehlers, nicht aber die Verbesserung desselben muß uns die Schamröthe auf die Wangen treiben. Sie stehen noch in dem Alter, in dem man für Alles Verzeihung erhält, in dem man jedoch nicht mehr ungestraft sündigen darf. Wenn Sie nur der Stimme Ihres Gewissens Gehör schenken wollen, so werden vor derselben tausend eitle Hindernisse verschwinden. Sie werden begreiflich finden, daß es bei der Ungewißheit, in welcher wir schweben, eine nicht zu entschuldigende Vermessenheit ist, sich zu einer anderen Religion zu bekennen, als zu der, in welcher man geboren ist, und daß es eine Falschheit ist, die, zu der man sich einmal bekennt, nicht mit aller Aufrichtigkeit auszuüben. Lebt man im Irrthum, so beraubt man sich dadurch eines nicht zu unterschätzenden Entschuldigungsgrundes vor dem Richterstuhle des höchsten Richters. Sollte er den Irrthum, in welchem man auferzogen ist, nicht eher verzeihen, als den, in welchen man nach eigener Wahl gefallen ist?
    Mein Sohn, erhalten Sie Ihre Seele beständig in dem Zustande, daß sie das Dasein eines Gottes wünscht, und es wird dann nie ein Zweifel an seinem Dasein in Ihrer Seele aufsteigen. Seien Sie übrigens, für welche Confession Sie sich auch entscheiden mögen, eingedenk, daß die wahren Pflichten der Religion von den Einrichtungen der Menschen unabhängig sind, daß ein rechtschaffenes Herz der wahre Tempel Gottes ist, daß es in jedem Lande und in jeder Religion als die Summe des Gesetzes gilt, Gott über Alles und seinen Nächsten als sich selbst zu lieben, daß es keine Religion gibt, die von den Pflichten der Sittenlehre entbindet, daß diese das eigentliche Wesen der Religion ausmachen, daß der innere Gottesdienst die erste dieser Pflichten ist und daß es ohne den Glauben keine wahrhafte Tugend gibt.
    Fliehen Sie diejenigen, die unter dem Vorwande, die Natur erklären zu wollen, trostlose Lehren in die Menschenherzen ausstreuen, und deren durchscheinender Skepticismushundertmal absprechender und entschiedener ist, als der bestimmte Ton ihrer Gegner. Unter dem anmaßungsvollen Vorgeben, sie allein seien erleuchtet, wahr und aufrichtig, unterwerfen sie uns

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