Emil oder Ueber die Erziehung
herrisch ihren absprechenden Entscheidungen, und geben sich das Ansehen, als ob sie uns in den unverständlichen Systemen, die sie in ihrer Phantasie aufgebaut haben, den wahren Grund der Dinge enthüllten. Da sie übrigens Alles, was die Menschen hoch und heilig halten, umstoßen, vernichten und mit Füßen treten, so rauben sie den Bekümmerten den letzten Trost in ihren Leiden, während sie den Mächtigen und Reichen den einzigen Zügel ihrer Leidenschaften abnehmen. Sie lassen beim Verbrechen die Gewissensbisse im Grunde des Herzens nicht aufkommen, nehmen der Tugend die Hoffnung und rühmen sich obendrein, Wohlthäter des Menschengeschlechts zu sein. Niemals ist ihrer Behauptung nach die Wahrheit den Menschen schädlich. Ich glaube es eben so fest wie sie, und gerade dies ist meiner Meinung ein sprechender Beweis dafür, daß das, was sie lehren, nicht Wahrheit ist. [51]
Guter Jüngling, seien Sie aufrichtig und wahr ohne Stolz. Lernen Sie die Kunst, auch einmal etwas nicht zu wissen; dann werden Sie weder sich noch Andere täuschen. Wenn Ihre Fähigkeiten bei weiterer Ausbildung Sie jemals in den Stand setzen, als öffentlicher Redner aufzutreten, so folgen Sie stets nur der Stimme IhresGewissens, ohne sich darum zu kümmern, ob man Ihnen Beifall zollt oder nicht. Der Mißbrauch des Wissens erzeugt den Unglauben. Jeder Gelehrte sieht mit Verachtung auf die Meinung der Volksmenge herab; Jeder will seineMeinung für sich allein haben. Die hochmüthige Philosophie führt zur Freigeisterei, wie blinde Frömmigkeit zum Fanatismus. Halten Sie sich von beiden Extremen gleich weit entfernt; entfernen Sie sich nie von dem Wege der Wahrheit oder von dem, was Ihnen in der Einfalt Ihres Herzens als Wahrheit erscheinen wird, weder aus Eitelkeit noch aus Schwäche. Bekennen Sie dreist auch vor den Philosophen Ihren Gott; predigen Sie den Unduldsamen rücksichtslos Humanität. Sie werden vielleicht allein für Ihre Meinung eintreten müssen, aber Sie werden in sich selbst ein Zeugniß tragen, das Ihnen das der Menschen ersetzen wird. Mögen dieselben Sie lieben oder hassen, mögen sie Ihre Schriften lesen oder verachten, das hat nichts auf sich. Sagen Sie, was wahr ist, thuen Sie, was gut ist. Darauf kommt es an, daß der Mensch hienieden seine Pflichten erfüllt; am besten arbeitet man für sich, wenn man sich selbst vergißt. Mein Sohn, das Sonderinteresse verleitet uns zu Täuschungen; nur die Hoffnung des Gerechten täuscht nimmer.
Ich habe dies Bekenntniß hier eingeschoben, nicht als eine Richtschnur für die Gedanken, an die man sich in Sachen der Religion zu halten hat, sondern als ein Beispiel der Art und Weise, wie man dies Thema in vernünftiger Weise behandeln kann, damit man sich nicht von der Methode, die ich aufzustellen gesucht habe, zu entfernen braucht. So lange man sich nicht von der Autorität der Menschen oder von den Vorurteilen des Landes, in welchem man geboren ist, beeinflussen läßt, können uns die bloßen Einsichten der Vernunft in die Einrichtung der Natur nicht weiter als bis zur natürlichen Religion führen, und auf sie beschränke ich mich bei meinem Emil. Wenn er noch eine andere haben soll, so steht mir nicht mehr das Recht zu, ihm hierbei als Führer zu dienen. Es ist allein seine Sache, sie zu wählen.
Wir arbeiten im Einklänge mit der Natur; während sie den physischen Menschen bildet, bemühen wir uns, den moralischen Menschen auszubilden. Allein wir vermögennicht mit ihr gleichen Schritt zu halten. Der Körper ist bereits kräftig und stark, während die Seele noch kraftlos und schwach ist, und was Menschenkunst auch aufbieten möge, so eilt die körperliche Entwickelung der Vernunft doch stets voraus. Die zu frühzeitige körperliche Reife zurückzuhalten und die Vernunft anzuregen, haben wir bisher unsere Hauptsorge sein lassen, damit der Mensch immer so viel als möglich ein in sich einiger sei. Dadurch, daß wir sein Naturell entwickelten, haben wir seine erwachende Sinnlichkeit abgelenkt. Die geistigen Objecte mäßigten den Eindruck der sinnlichen Objecte. Indem wir mit ihm bis auf den Urgrund aller Dinge zurückgingen, haben wir die Sinne nicht die Herrschaft über ihn gewinnen lassen. Es war natürlich, daß wir uns von dem Studium der Natur zur Aufsuchung ihres Schöpfers erhoben.
In wie vieler Beziehung haben wir uns wieder einen neuen Einfluß über unseren Zögling verschafft, wenn wir erst bis dahin gelangt sind! Wie viel neue Mittel, zu seinem Herzen zu reden, sind
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