Emil oder Ueber die Erziehung
Gewohnheit. Entreißt ihn euch auch die Aufwallung eines Augenblicks, so führt ihn doch die Reue sofort wieder zu euch zurück. Das Gefühl, das ihn an euch fesselt, ist allein von Dauer; alle übrige sind flüchtig und verwischen sich gegenseitig. Laßt ihn nur nicht verderben, so wird er sich stets folgsam zeigen. Erst wenn er schon verdorben ist, beginnt er widersetzlich zu werden.
Ich räume ein, daß er, wenn ihr den in ihmaufsteigenden Begierden offen entgegenträtet und die neuen Bedürfnisse, die sich in ihm fühlbar machen, unklugerweise als Verbrechen behandeltet, euch nicht lange Gehör schenken würde; solltet ihr indeß von meiner Methode abgehen, so bürge ich euch für nichts mehr. Seid stets eingedenk, daß ihr nur Diener der Natur seid, dann werdet ihr nie als Feinde derselben auftreten.
Wofür soll man sich nun aber entscheiden? Man geht hierbei gewöhnlich von der Voraussetzung aus, daß es nur eine Alternative gebe, entweder seine Neigungen zu begünstigen oder zu bekämpfen, sein Tyrann zu werden oder seinen Leidenschaften Vorschub zu leisten. Mit Beidem sind jedoch so gefährliche Folgen verknüpft, daß man bei der Wahl nicht vorsichtig genug zu Werke gehen kann.
Das erste Mittel, welches sich darbietet, um dieser Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, besteht darin, ihn so früh wie möglich zu verheirathen. Es ist unstreitig der sicherste und naturgemäßeste Ausweg; trotzdem hege ich gerechten Zweifel, ob es auch der beste und vorteilhafteste ist. Ich werde weiter unten meine Gründe dafür anführen. Vorläufig will ich indeß zugeben, daß man junge Leute im mannbaren Alter verheirathen muß. Aber dieses Alter erscheint für sie vor der Zeit; wir selbst haben dazu beigetragen, daß es zu früh eintritt; man muß es also bis zur völligen Reife hinauszuschieben suchen.
Brauchte man nur auf die Neigungen zu hören und ihren Anzeichen nachzugehen, so ließe sich das bald erreichen. Allein es gibt so viel Widersprüche zwischen den Rechten der Natur und unseren sozialen Gesetzen, daß man zu einer Ausgleichung derselben fortwährend zu Ausflüchten und Winkelzügen seine Zuflucht nehmen muß. Es gehört ein großer Aufwand von Kunst dazu, um den socialen Menschen vor einer völligen Verkünstelung zu bewahren.
Aus den oben auseinandergesetzten Gründen bin ich der Ansicht, daß man durch die von mir angegebenen sowie andere ähnliche Mittel die Unkenntniß der Begierden und die Reinheit der Sinne wenigstens bis zum zwanzigsten Jahre zu erhalten vermag. Dies ist so wahr, daßbei den germanischen Völkern ein junger Mann, welcher vor diesem Alter die Keuschheit verletzte, auf immer für ehrlos galt, und mit Recht suchen die Geschichtsschreiber den Grund zu der Körperkraft derselben und zu der Menge ihrer Kinder in der Enthaltsamkeit während der Jugend.
Dieser Zeitpunkt läßt sich sogar noch viel weiter hinausschieben, und noch vor wenig Jahrhunderten war selbst in Frankreich nichts gewöhnlicher. Unter anderen bekannten Beispielen verdient der Vater des Montaigne, ein nicht weniger gewissenhafter und wahrheitsliebender als kräftiger und kerngesunder Mann der Erwähnung, der sich nach seiner eigenen eidlichen Versicherung in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahre, nach längerer Dienstzeit in den italienischen Kriegen, als reiner Junggesell verheirathet hat, und man kann aus den Schriften seines Sohnes ersehen, welche Lebenskraft und Heiterkeit sich sein Vater bis über sein sechzigstes Jahr hinaus bewahrt hat. Sicherlich stützt sich die entgegengesetzte Anschauung mehr auf unsere Sitten und Vorurtheile, als auf die Kenntniß des Menschengeschlechts im Allgemeinen.
Ich brauche deshalb nicht erst auf das Beispiel unserer Jugend einzugehen. Es liefert keinen Beweis gegen den, welcher nicht so erzogen ist wie sie. In Erwägung dessen, daß die Natur in dieser Beziehung keinen bestimmten Zeitpunkt hat, dessen Eintritt sich nicht beschleunigen oder verzögern ließe, glaube ich, ohne ihr Gesetz zu verletzen, annehmen zu können, daß sich Emil bis jetzt durch meine Sorgfalt seine ursprüngliche Unschuld bewahrt hat, sehe aber auch, daß sich dieser glückliche Lebensabschnitt seinem Ende nähert. Von beständig wachsenden Gefahren umringt, wird er mir, was ich auch immer thun möge, bei der ersten Gelegenheit entschlüpfen, und diese Gelegenheit wird nicht lange ausbleiben. Er wird dem blinden Triebe seiner Sinne folgen, und man kann tausend gegen eins wetten, daß er auf bestem Wege ist,
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