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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Seite weder Strafpredigt noch Rüge zu befürchten hat, euch stets Alles sagen wird, und daß mansich nicht unterfangen wird, ihm etwas anzuvertrauen, was es euch verschweigen muß, wenn man sich überzeugt halten kann, daß es euch nie etwas verschweigt.
    Was mir die Richtigkeit meiner Methode am augenscheinlichsten macht, ist der Umstand, daß ich, wenn ich mir über ihre Erfolge so genau wie möglich Rechenschaft ablege, doch nie im Leben meines Zöglings auch nur eine einzige Lage finde, die mir nicht irgend ein freundliches Bild von ihm hinterließe. Selbst in dem Momente, in welchem ihn die Leidenschaftlichkeit seines Temperamentes hinreißt, und in welchem er, voller Empörung gegen die Hand, die ihn zurückhält, sich sträubt und mir zu entschlüpfen beginnt, erkenne ich in der Unruhe seines Gemüths, in seinem Aufbrausen noch immer seine ursprüngliche Einfalt wieder. Sein Herz, das noch so rein wie sein Körper ist, kennt eben so wenig Verstellung wie Laster. Noch haben Vorwürfe und verächtliche Behandlung sein Ehrgefühl nicht abgestumpft; nie hat elende Furcht ihm den Gedanken, sich zu verstellen, eingeflößt. Noch besitzt er die ganze Unbedachtsamkeit der Unschuld, ohne Bedenken überläßt er sich seiner Naivetät, er weiß noch nicht, welchen Nutzen eine Täuschung verschaffen könnte. Keine Bewegung geht in seinem Innern vor, die sein Mund oder seine Augen nicht errathen ließen, und oft sind mir die Gedanken, welche ihn erfüllen, früher bekannt, als ihm selbst.
    So lange er fortfährt, mir in solcher Offenherzigkeit seine Seele zu enthüllen und mir Alles, was er fühlt, mit Freuden zu offenbaren, habe ich nichts zu befürchten; die Gefahr ist noch nicht nahe. Sobald er jedoch schüchterner und zurückhaltender wird, sobald mir in seinen Unterhaltungen die erste Verlegenheit der Scham auffällt, dann regt der Trieb sich in ihm schon, ja, dann beginnt sich bereits die Vorstellung des Bösen mit demselben zu verbinden. Jetzt gilt es, keinen Augenblick mehr zu verlieren, und wenn ich mich nicht beeile ihn selbst zu unterrichten, so wird er bald auch wider meinen Willen unterrichtet sein.
    Mehr als einer meiner Leser wird, selbst wenn er auf meine Ideen eingeht, die Ansicht hegen, daß es sich hierbeinur um eine gelegentlich herbeigeführte Unterredung mit dem jungen Manne handele, und daß nun damit Alles abgemacht sei. Ach, daß sich das menschliche Herz leider nicht auf diese Weise lenken läßt! Worte sind bedeutungslos, wenn man nicht den Augenblick der Unterredung vorbereitet hat. Bevor man den Samen ausstreut, muß man das Erdreich bestellen. Der Same der Tugend geht schwer auf. Es bedarf langwieriger Zubereitungen, ehe er Wurzel zu schlagen vermag. Eine der Ursachen, in Folge deren die Predigten so äußerst wenig Nutzen stiften, liegt darin, daß man sie ohne Unterschied und Wahl an alle Welt richtet. Wie kann man sich nur einbilden, daß ein und dieselbe Predigt sich für so viele Zuhörer eignen könne, die sich in so verschiedener Stimmung befinden und an Geist, Temperament, Alter, Geschlecht, Lebensstellung und Ansichten einander so unähnlich sind? Es gibt vielleicht nicht Zwei, auf welche das, was an Alle gerichtet ist, vollkommen paßt, und alle unsere Seelenzustände haben so wenig Beständigkeit, daß es im Leben eines jeden Menschen vielleicht wieder nicht zwei Augenblicke gibt, in denen dieselbe Rede den gleichen Eindruck auf ihn hervorbringt. Beurtheilt nun selbst, ob dann, wenn die entbrannte Sinnlichkeit den Verstand zum Schweigen bringt und den Willen beherrscht, wol die rechte Zeit ist, auf die ernsten Lehren der Weisheit zu lauschen. Redet deshalb mit jungen Leuten nie von Vernunft, nicht einmal wenn sie schon das Alter der Vernunft erreicht haben, bevor ihr sie nicht in den Stand versetzt habt, euch zu verstehen. An der Wirkungslosigkeit der meisten Reden tragen weit mehr die Lehrer als die Schüler die Schuld. Der Pedant und der wahre Erzieher sagen ungefähr dasselbe, allein ersterer sagt es bei jeder Gelegenheit, während letzterer es nur dann in Worte kleidet, wenn er des Erfolges sicher ist.
    Wie ein Nachtwandler, der im Schlafe umherirrt, mit zugemachten Augen am Rande eines Abgrundes dahinschreitet, in den er beim plötzlichen Erwachen hinabstürzen würde, so entgeht auch mein Emil im Schlafe der Unwissenheit Gefahren, die er bis jetzt noch gar nicht bemerkt; erwecke ich ihn plötzlich, so ist er verloren. Unser Bemühenmuß deshalb zunächst darauf gerichtet

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