Emil oder Ueber die Erziehung
uns dadurch an die Hand gegeben! Nun erst findet er sein wahres Interesse daran, gut zu sein, das Gute zu thun, auch ungesehen von der Menschen Augen und ohne Zwang der Gesetze, gerecht zu sein im Widerstreite des göttlichen Willens mit seinem eigenen, seine Pflicht zu erfüllen selbst mit Daransetzung seines Lebens, und die Tugend in seinem Herzen zu bewahren, nicht allein aus Liebe zur Ordnung, welcher Jeder stets die Liebe zu sich selbst vorzieht, sondern aus Liebe zum Urheber seines Daseins, einer Liebe, welche mit jener Selbstliebe zusammenschmilzt, um sich endlich der dauernden Glückseligkeit erfreuen zu können, welche ihm die Ruhe eines guten Gewissens und die Betrachtung des höchsten Wesens in einem anderen Leben verheißen, nachdem er das irdische gut angewendet hat. Schwindet dieser Glaube, dann erblicke ich unter den Menschen nur noch Ungerechtigkeit, Heuchelei und Lüge. Das Sonderinteresse, welches bei einem Conflicte verschiedener Interessen nothwendig das Uebergewicht erhält, lehrt Jeden, das Laster mit der Maske der Tugend zu schmücken. Alle andere Menschen sollenmein Bestes auf Kosten des ihrigen herbeiführen. Alles soll sich nur um mich drehen; mag das ganze Menschengeschlecht in Noth und Elend dahinsterben, wenn es nur so möglich ist, mir einen Augenblick des Schmerzes und Hungers zu ersparen. So klingt die innere Sprache eines jeden Ungläubigen, der sich nur auf seine Vernunft verläßt. Ja ich werde, so lange ich lebe, behaupten: Wer in seinem Herzen spricht: »Es ist kein Gott,« und trotzdem eine andere Sprache führt, der ist entweder ein Lügner oder ein Unsinniger.
Doch, lieber Leser, ich fühle nur zu wohl, daß du trotz aller meiner Mühe meinen Emil in einem ganz anderen Lichte erblicken wirst als ich. Du wirst ihn dir stets euren jungen Leuten ähnlich vorstellen, beständig leichtsinnig, ausgelassen, flatterhaft, von Lustbarkeit zu Lustbarkeit, von Vergnügen zu Vergnügen eilend, ohne sich je von irgend etwas fesseln zu lassen. Es wird dein Lachen erregen, wenn du siehst, wie ich aus einem feurigen, lebhaften, leidenschaftlichen, aufbrausenden jungen Manne einen beschaulichen Charakter, einen Philosophen, einen förmlichen Theologen bilde. Du wirst sagen: Dieser Träumer macht stets auf Hirngespinnste Jagd; indem er uns einen Zögling seines eigenen Machwerks vorhält, bildet er ihn nicht blos, nein, er erschafft ihn, läßt ihn fertig aus seinem Gehirne hervorgehen, und während er sich immer einbildet, der Natur zu folgen, entfernt er sich doch jeden Augenblick weiter von ihr. Wenn ich nun meinerseits meinen Zögling mit den eurigen vergleiche, so entdecke ich kaum etwas, was sie mit einander gemein haben könnten. Bei einer so verschiedenen Erziehung müßte es ja auch fast als ein Wunder erscheinen, wenn er ihnen in irgend einer Beziehung ähnlich wäre. Da er seine Kindheit in all der Freiheit, die jene sich im Jünglingsalter nehmen, zugebracht hat, so beginnt er sich in seinem Jünglingsalter selbst in das Gesetz zu fügen, dem man sie schon als Kinder unterwarf. Dieses Gesetz wird jenen zur Geißel, unter welche sie sich nur mit Schauder beugen; sie erblicken darin die unausgesetzte Tyrannei ihrer Lehrer und kommen endlich zu dem Wahne, daß sie nur dadurch aus der Kindheit herauszutretenvermögen, daß sie jede Art von Joch abschütteln; [52] dann suchen sie sich für den langen Zwang, in dem man sie gehalten hat, schadlos zu halten, wie ein Gefangener, wenn er endlich seiner Fesseln entledigt ist, seine Glieder streckt, dehnt und schüttelt. Emil dagegen setzt seine Ehre darin, ein Mann zu werden und sich freiwillig dem Joche der sich regenden Vernunft zu unterwerfen. Da sein Körper bereits völlig ausgebildet ist, so bedarf er der gewohnten Bewegung nicht länger, und beginnt nun sich von selbst ruhig zu verhalten, während sein erst halb entwickelter Geist seine Schwingen regt. So ist das Alter der Vernunft für jene das Alter der Ungebundenheit, für diesen das Alter der zunehmenden Urtheilskraft.
Wollt ihr aber wissen, wer von ihnen, sie oder er, hierin der Ordnung der Natur am nächsten kommt, so betrachtet den Abstand zwischen denjenigen, welche ihr mehr oder weniger fern stehen; betrachtet die jungen Leute auf dem Lande, und seht, ob sie sich derselben Ausgelassenheit hingeben, wie die eurigen. »In ihrer Kindheit,« sagt Herr le Beau, »sieht man die Wilden beständig thätig und unaufhörlich mit allerlei Spielen beschäftigt, die den Körper in steter
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