Emil oder Ueber die Erziehung
sich ins Verderben zu stürzen. Ich habe zu viele Betrachtungen über die Sitten der Menschen angestellt, um nicht den unüberwindlichen Einfluß dieses ersten Augenblicks auf die ganze übrige Lebenszeit zu erkennen. Verstelle ich mich und nehme ichden Anschein an, als ob ich nichts bemerkte, so macht er sich meine Schwäche zu Nutze. Während er mich hinter das Licht zu führen glaubt, verachtet er mich, und ich bin mit an seinem Verderben Schuld. Mache ich dagegen den Versuch, ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, so ist es nicht mehr Zeit, und er hört nicht mehr auf mich. Ich werde ihm unbequem, verhaßt und unerträglich. Er wird nicht säumen, sich meiner zu entledigen. Unter diesen Umständen bleibt mir vernünftigerweise nur noch ein Mittel übrig, das nämlich, ihn selbst für seine Handlungen verantwortlich zu machen, ihn wenigstens vor den Täuschungen des Irrthums zu bewahren und ihm offen die Gefahren darzulegen, von denen er umgeben ist. Hatte ich ihn bisher durch seine Unwissenheit zurückgehalten, so müssen mir jetzt seine Einsichten zu gleichem Zwecke dienen.
Diese neuen Belehrungen sind von Wichtigkeit, und es erscheint angemessen, die Dinge von einem höheren Standpunkte aus zu betrachten. Das ist der rechte Augenblick, ihm gleichsam Rechenschaft abzulegen; ihm den Nachweis über die Verwendung seiner und meiner Zeit zu führen; ihm zu erklären, was er ist, und was ich bin, was ich gethan habe, und was er gethan hat, was wir uns gegenseitig schuldig sind; ihm alle seine moralischen Verhältnisse, alle seine Verpflichtungen zu erklären, die er eingegangen ist und auf welche Andere ihm gegenüber eingegangen sind; ihm darzulegen, welchen Höhepunkt er in der Entwickelung seiner Fähigkeiten erreicht, welchen Weg er noch zurückzulegen hat, welche Schwierigkeiten ihm auf demselben begegnen werden und durch welche Mittel sich dieselben überwinden lassen, worin ich ihm noch ferner Beistand leisten kann, worin er sich in Zukunft nur allein zu helfen vermag, kurz, ihm den kritischen Punkt zu zeigen, auf welchem er sich befindet, ihm die neuen Gefahren, welche ihn umringen, und alle jene stichhaltigen Gründe vorzuführen, welche ihn dazu bestimmen müssen, mit aller Aufmerksamkeit über sich zu wachen, bevor er den in ihm aufsteigenden Gelüsten nachgibt.
Lasset nicht außer Acht, daß man bei der Leitung eines Erwachsenen gerade das Gegentheil von dem thun muß,was ihr bei der Leitung eines Kindes gethan habt. Heget kein Bedenken, ihn in jenen gefährlichen Geheimnissen zu unterrichten, welche ihr ihm so lange mit aller Sorgfalt verborgen habt. Da er sie am Ende doch einmal erfahren muß, so kommt viel darauf an, daß er sie weder von einem Anderen, noch von sich selbst, sondern nur von euch kennen lerne. Da er von nun an doch gezwungen sein wird, gegen dieselben anzukämpfen, so muß er, um nicht der Gefahr der Ueberraschung ausgesetzt zu sein, seinen Feind doch kennen.
Nie sind junge Leute, die man in Bezug auf diese Gegenstände aufgeklärt findet, ohne zu wissen, wie sie zu dieser Kenntniß gelangt sind, es ungestraft geworden. Da sich diese unbedachtsame Unterweisung um keinen ehrbaren Gegenstand drehen kann, so befleckt sie wenigstens die Einbildungskraft derer, die sie empfangen, und flößt ihnen Neigung zu den Lastern derer ein, die sie ertheilen. Dies ist jedoch noch nicht einmal Alles. Das ist die Handhabe, deren sich die Dienstleute bedienen, um sich in den Geist des Kindes einzuschleichen. Dadurch gewinnen sie das Vertrauen desselben, malen ihm seinen Erzieher als eine mürrische und lästige Persönlichkeit aus, und einen Lieblingsgegenstand ihrer geheimen Unterredungen bilden die Klatschereien über denselben. Ist es mit dem Zöglinge erst so weit gekommen, dann kann der Erzieher sein Amt nur getrost aufgeben; Gutes vermag er nicht mehr zu wirken.
Weshalb wählt sich nun aber das Kind solche seltsame Vertraute? Regelmäßig wegen der Tyrannei derer, welche seine Erziehung leiten. Weshalb sollte es gegen dieselben Zurückhaltung beobachten, wenn es nicht dazu gezwungen würde? Weshalb sollte es sich über sie beklagen, wenn es keinen Grund zur Klage hätte? Sie sind naturgemäß die ersten Vertrauten desselben; an dem Eifer, mit dem es kommt, ihnen alle seine Gedanken mitzutheilen, kann man wahrnehmen, daß es sie nur zur Hälfte gedacht zu haben meint, so lange es ihnen dieselben nicht bekannt hat. Ihr könnt mit Sicherheit darauf rechnen, daß das Kind, sobald es von eurer
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