Emil oder Ueber die Erziehung
er in seinem dreißigsten Jahre im Stande sein, dieses ganze Geschmeiß zu zertreten, und würde sich zum Herrn über dasselbe mit weniger Mühe emporschwingen können, als er anwenden mußte, seiner selbst Herr zu bleiben.
Hätten Geburt und Glück meinem Emil nur einigermaßen helfend zur Seite gestanden, so würde er, falls er wollte, dieser Mann sein; aber er würde sie in zu hohem Grade verachten, als daß er sich herabließe, sich zu ihrem Herrn aufzuwerfen. Beobachten wir jetzt, wie er in die von ihnen angefüllte Welt eintritt, nicht um darin eine dominirende Stellung einzunehmen, sondern um sie kennen zu lernen und in ihr eine Gefährtin zu finden, die seiner würdig ist.
Welcher Rang ihm auch durch seine Geburt beschieden sein und in welchen Gesellschaftskreis er sich auch zuerst einführen möge, sein erstes Auftreten wird einfach und anspruchslos sein. Gott wolle ihn davor bewahren, daß er so unglücklich sei, darin zu glänzen! Mit jenen Eigenschaften, welche gleich auf den ersten Blick bestechen, ist er nicht ausgestattet; er besitzt sie nicht und will sie gar nicht besitzen. Er legt zu wenig Werth auf die Urtheile der Menschen, als daß er ihren Vorurteilen einen solchen zugestehen sollte, und hat gar kein Verlangen danach, daß man ihn achte, bevor man ihn kennt. Die Art und Weise seines Auftretens ist eben so frei von übertriebener Zurückhaltung wie von einem eitlen Hervordrängen; sie ist natürlich und wahr. Er kennt weder Zwang noch Verstellung, und ist inmitten einer Gesellschaft der nämliche, der er allein und ohne Zeugen ist. Wird er nun deshalb etwa gegen irgend Jemand grob, zurückstoßend oder unaufmerksam sein? Ganz im Gegentheile. Hegt er, schon wenn er allein ist, keine nichtachtenden Gedanken gegen seine Mitmenschen, weshalb sollte er sie dann wol, wenn er unter ihnen lebt, mit Nichtachtung behandeln? Aeußerlich räumt er ihnen allerdings keinen Vorzug vor sich ein, weil er sie in seinem Herzen sich nicht vorzieht, aber er trägt auch eben so wenig Gleichgiltigkeit zur Schau, die seinem Wesen völlig fremd ist. Ist er auch nicht mit den Höflichkeitsphrasen vertraut, so erzeigt er doch die Aufmerksamkeiten, welche in der allgemeinen Menschenliebe ihre Wurzel haben. Er sieht nicht gern Jemanden leiden; aus Ziererei wird er zwar einem Andern seinen Platz nicht anbieten, aus Gutmütigkeit wird er ihm dagegen denselben gern abtreten, sobald er wahrnimmt, daß derselbe zurückgesetzt wird, und glaubt, daß ihn diese Vernachlässigung kränke; denn es wird meinem jungen Manne weniger sauer werden, freiwillig stehen zu bleiben, als mit anzusehen, daß ein Anderer gezwungenerweise stehen bleibe.
Obgleich Emil im Allgemeinen keine hohe Achtung vor den Menschen hat, so wird er ihnen doch auch keineswegs Verachtung bezeigen, weil er sie beklagt und von Mitleid mit ihnen erfüllt ist. Da er ihnen keinenGeschmack an den wirklichen Gütern einzuflößen vermag, so läßt er ihnen die eingebildeten Güter, an denen sie ihr Genüge finden, weil er sich der Besorgniß nicht entschlagen kann, daß er sie nur noch unglücklicher machen würde, als sie schon sind, wenn er sie ihnen raubte, ohne ihnen einen Ersatz für dieselben bieten zu können. Er leidet daher weder an Streitsucht noch an Rechthaberei, und spricht den Leuten eben so wenig nach dem Munde wie er ihnen schmeichelt. Er spricht seine Ansicht aus, ohne die eines Anderen zu bekämpfen, weil er die Freiheit über Alles liebt und ihm die Freimütigkeit als eines der beneidenswertesten Rechte erscheint.
Er spricht wenig, weil er nichts danach fragt, ob man sich mit ihm beschäftige. Aus demselben Grunde redet er nur von nützlichen Dingen. Was sollte ihn auch wol sonst zum Sprechen bewegen? Emil ist zu unterrichtet, um sich je zum Schwätzer herabzuwürdigen. Die Schwatzhaftigkeit kann nur eine doppelte Quelle haben; entweder entspringt sie der krankhaften Einbildung, man besitze Geist, wovon weiter unten die Rede sein soll, oder dem hohen Werthe, welchen man auf Kleinigkeiten legt, und dem damit verbundenen Wahne, daß Andere sie mit denselben Augen betrachten wie wir. Wer genug Einsicht besitzt, um jedem Dinge seinen wahren Werth beizulegen, spricht niemals zu viel; denn er vermag ja auch schon vorauszusehen, welche Aufmerksamkeit man ihm schenken kann und welches Interesse sein Gespräch zu erwecken im Stande ist. Im Allgemeinen sprechen die Leute, welche wenig wissen, viel, während die Leute, welche viel wissen, wenig reden. Es hängt
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