Emil oder Ueber die Erziehung
uns dies angebliche Bedürfniß vielleicht nie fühlbar gemacht, und wir wären dann ohne Versuchungen, ohne Anstrengungen und ohne Verdienst keusch geblieben. Man macht sich keine Vorstellung davon, welche geheime Gährung gewisse Situationen und gewisse Bilder im Blute der Jugend erregen, ohne daß sie sich selbst über die Ursache dieser ersten Unruhe, die sich nicht leicht stillen läßt und nicht wiederzukehren säumt, Rechenschaft abzulegen vermag. Je mehr ich nun aber über diese wichtige Krisis so wie über ihre näheren oder entfernteren Ursachen nachdenke, desto mehr bildet sich in mir die Ueberzeugung aus, daß ein Mensch, der einsam in einer Wüste, ohne Bücher, ohne Unterricht und ohne Weiber erzogen wäre, daselbst in jungfräulicher Reinheit sterben würde, ein wie hohes Alter er auch erreichen möge.
Allein hier handelt es sich nicht um einen Wilden dieser Art. Wenn man einen Menschen im Kreise seiner Mitmenschen und für die Gesellschaft erzieht, so ist es unmöglich, ja nicht einmal empfehlenswerth, ihn beständigin dieser heilsamen Unwissenheit zu erhalten. Nichts ist für die Bewahrung der Keuschheit schlimmer als ein halbes Wissen. Die Erinnerung an die Gegenstände, die unsere Blicke auf sich gezogen, die Ideen, welche wir erworben haben, begleiten uns in die Einsamkeit, bevölkern sie wider unfern Willen mit Bildern, die weit verführerischer sind als die Gegenstände selbst, und machen die Einsamkeit für denjenigen, welcher jene mit dahin nimmt, eben so unheilvoll, wie sie demjenigen, welcher sich stets allein in ihr aufhält, Nutzen bringt.
Wachet deshalb mit aller Sorgfalt über den jungen Mann; vor allem Uebrigen wird er sich schon zu schützen wissen, euch aber liegt es ob, ihn vor sich selbst zu schützen. Lasset ihn weder bei Tage noch bei Nacht allein; schlafet wenigstens in einem Zimmer mit ihm; nur vom Schlafe übermannt, lege er sich zu Bett, und verlasse es unmittelbar nach dem Erwachen. Mißtrauet dem Instincte, sobald ihr euch nicht mehr auf ihn beschränkt. Obwol er gut ist, so lange er allein wirkt, so wird er doch verdächtig, sobald er sich mit menschlichen Einrichtungen verbindet. Man darf ihn nicht vernichten, sondern muß ihn regeln, und letzteres macht vielleicht größere Schwierigkeiten als seine völlige Vernichtung. Es wäre sehr gefährlich, wenn er eurem Zöglinge Anleitung gäbe, seine Sinnlichkeit zu täuschen und für die Gelegenheit zu ihrer Befriedigung Ersatz zu gewähren. Kennt er erst einmal diesen gefährlichen Ersatz, so ist er verloren. Von da ab wird sein Körper und Geist für immer entnervt sein; bis zum Grabe wird er mit den traurigen Folgen dieser Gewohnheit, der unheilvollsten, welcher ein junger Mann unterworfen sein kann, behaftet bleiben. Ohne Zweifel würde es noch besser sein … Wenn die Glut eines feurigen Temperamentes unbezähmbar wird, dann, mein lieber Emil, beklage ich dich; aber nicht einen Augenblick werde ich schwanken, unter keinen Umständen werde ich dulden, daß der Zweck der Natur umgangen werde. Wenn du dich einmal der Herrschaft eines Tyrannen fügen mußt, so will ich dich doch lieber dem überliefern, von welchem ich dich wieder zu befreien im Stande bin. Was sich auch immer ereignenmöge, so werde ich dich doch leichter den Frauen als dir selbst entreißen können.
Bis zum zwanzigsten Jahre wächst der Körper und hat dazu alle ihm zugeführten Nahrungsstoffe nöthig. Bis dahin wird die Enthaltsamkeit von der Ordnung der Natur verlangt, und nur auf Kosten seiner Constitution versündigt man sich gegen dieselbe. Vom zwanzigsten Jahre an ist die Enthaltsamkeit dagegen eine sittliche Pflicht. Sie hat darum eine so hohe Bedeutung, weil sie uns lehrt, uns selbst zu beherrschen und unsere Begierden zu zügeln. Indeß haben die sittlichen Pflichten ihre Modificationen, ihre Ausnahmen und Regeln. Sobald die menschliche Schwachheit eine Alternative unvermeidlich macht, verdient das kleinste von zwei Uebeln den Vorzug. In jedem Falle ist es besser, einen Fehler zu begehen, als sich an ein Laster zu gewöhnen.
Seid eingedenk, daß ich hier nicht mehr von meinem Zöglinge rede, sondern von dem eurigen. Seine Leidenschaften, die durch eure Zulassung in Gährung gerathen sind, unterjochen euch. Füget euch also offen in sie, und zwar ohne ihm seinen Sieg zu verhehlen. Wenn ihr es versteht, ihm denselben in seinem wahren Lichte zu zeigen, so wird er sich darüber weniger stolz als vielmehr beschämt fühlen, und ihr werdet euer Recht
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