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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nicht hat, oder, um der Schamlosigkeit die Krone aufzusetzen, auf die Sittsamkeit der Frau, die er wirklich besitzt. Gehe aber noch einen Schritt weiter. Rede mit ihm von seiner Mutter und sieh, ob es ihm angenehm ist, für ein im Ehebruche erzeugtes Kind, für den Sohn eines anrüchigen Weibes, für einen Menschen zu gelten, der sich den Namen einer Familie widerrechtlich anmaßt, der den rechtmäßigen Erben um sein Erbtheil bringt, kurz, ob er sich geduldig als Bastard behandeln lassen wird. Wer unter ihnen wird wünschen, daß man seiner Tochter die Ehre raube, wie er sie den Töchtern Anderer geraubt hat? Nicht einen Einzigen gibt es unter ihnen, der nicht dein Leben bedrohen würde, wenn du dich im Verkehre mit ihm nach all den Grundsätzen, die er sich dir einzuimpfen bemüht, richten wolltest. So verrathen sie schließlich ihre Inconsequenz, und man überzeugt sich, daß keiner von ihnen glaubt, was er sagt. Damit habe ich dir meine Gründe erklärt, lieber Emil; erwäge nun auch die ihrigen, wenn sie solche für sich anführen können, und vergleiche. Wollte ich mich wie sie der Verachtung und des Spottes als Waffen bedienen, so würdest du sehen, daß sie der Spottsucht eine eben so große, ja vielleicht noch größere Zielscheibe darbieten würden als ich.Allein ich scheue eine ernstliche Prüfung nicht. Der Triumph der Spötter ist von kurzer Dauer. Die Wahrheit hat Bestand, aber jener unverständiges Gelächter verstummt.«
    Es ist euch unerklärlich, wie folgsam Emil noch in seinem zwanzigsten Jahre sein kann. Wie verschiedene Gedanken wir doch in Bezug darauf haben! Ich meinerseits kann nicht begreifen, wie er es in seinem zehnten Jahre hat sein können; denn was für eine Handhabe bot er mir wol in diesem Alter dar? Fünfzehn Jahre lang habe ich die größte Sorgfalt aufwenden müssen, um es dahin zu bringen. Damals erzog ich ihn noch nicht, sondern bereitete ihn erst vor, daß er erzogen werden konnte. Jetzt ist er es hinreichend, um lenksam zu sein; er erkennt die Stimme der Freundschaft und weiß der Vernunft zu gehorchen. Ich lasse ihm allerdings den Schein der Freiheit, allein nie war er mir in Wahrheit mehr unterworfen, denn er ist es, weil er es sein will. So lange ich mich nicht habe zum Herrn seines Willens machen können, bin ich Herr seiner Person geblieben; ich verließ ihn keinen Schritt. Jetzt überlasse ich ihn mitunter sich selbst, weil ich beständig die Herrschaft über ihn ausübe. Beim Abschiede umarme ich ihn und sage mit zuversichtlichem Tone zu ihm: »Emil, ich vertraue dich meinem Freunde an; ich übergebe dich seinem ehrlichen Herzen; er wird mir gegenüber die Verantwortlichkeit für dich tragen.«
    Es ist nicht das Werk einen Augenblicks, feste Gewohnheiten, die noch keine vorausgehende Trübung erlitten haben, zu verderben und Grundsätze, welche unmittelbar aus den ursprünglichen Einsichten der Vernunft abgeleitet sind, in Vergessenheit zu bringen. Wenn während meiner Abwesenheit irgend eine Wandlung vor sich gehen sollte, so würde sie doch nie von so langer Dauer sein und er vermöchte nie sie so vollkommen vor mir zu verbergen, daß ich die Gefahr nicht noch vor Eintritt des Nebels bemerken und nicht Zeit haben sollte, Heilmittel anzuwenden. Wie man nicht mit einem Male schlecht wird, so lernt man sich auch nicht plötzlich verstellen, und wenn sich je ein Mensch in dieser Kunst ungeschickt benimmt, so ist esEmil, der in seinem ganzen Leben nicht eine einzige Gelegenheit gehabt hat, sie anzuwenden.
    Durch diese so wie ähnliche Beweise meiner Sorgfalt halte ich ihn vor fremden Zwecken und gemeinen Grundsätzen so gut bewahrt, daß ich ihn lieber inmitten der schlechtesten Gesellschaft von Paris sehen möchte, als allein in seinem Zimmer oder in einem Parke, der ganzen Unruhe seines Alters überlassen. Was man auch immer thun möge, so wird doch von allen Feinden, welche einen jungen Mann bedrohen können, der gefährlichste und der einzige, den man nicht fern halten kann, stets er selbst sein. Dieser Feind ist indeß nur durch unsere eigene Schuld gefährlich; denn wie ich schon tausendmal gesagt habe, wird die Sinnlichkeit lediglich durch die Einbildungskraft wachgerufen. Ihr Bedürfniß ist im eigentlichen Sinne gar kein physisches Bedürfniß; es beruht durchaus nicht auf Wahrheit, daß es ein wirkliches Bedürfniß ist. Hätte sich nie ein unzüchtiger Gegenstand unseren Blicken dargeboten, nie ein unreiner Gedanke in unseren Geist Eingang gefunden: so hätte sich

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