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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sehr einfach zusammen, daß ein unwissender Mensch Alles, was er weiß, für höchst wichtig hält und es vor aller Welt ausposaunt. Allein ein unterrichteter Mann öffnet nicht leicht die Fundgrube seines Wissens; er hätte zu viel zu sagen und weiß nur zu wohl, daß auch nach ihm noch weit mehr zu sagen wäre. So schweigt er denn.
    Weit davon entfernt, an den Sitten Anderer Anstoß zu nehmen, findet er sich vielmehr in dieselben und richtet sich willig nach ihnen, nicht etwa um den Anschein zugewinnen, als ob er mit den Gebräuchen vertraut sei, noch um sich den Anstrich eines Weltmannes zu geben, sondern im Gegentheil aus Besorgniß, er könnte sich sonst von den Andern unterscheiden und Aufsehen erregen; und nie fühlt er sich wohler, als wenn er gar keine Beachtung findet.

    Obgleich ihm bei seinem Eintritte in die Welt die Gebräuche derselben völlig fremd sind, ist er doch deswegen weder schüchtern noch furchtsam. Wenn er sich trotzdem im Hintergrunde hält, so geschieht es durchaus nicht aus Verlegenheit, sondern weil der, welcher gut beobachten will, nicht gesehen werden darf; denn was man von ihm denkt, beunruhigt ihn wenig, und der Gedanke, sich vielleicht dem Gelächter auszusetzen, flößt ihm nicht die geringste Furcht ein. Das ist die Ursache, daß er stets Ruhe und kaltes Blut bewahrt und sich durch falsche Scham nicht beirren läßt. Mag man ihn bemerken oder nicht, so thut er doch Alles, was er vornimmt, stets so gut er kann, und da seine Gedanken beständig gesammelt sind, um Andere richtig beobachten zu können, so eignet er sich ihre Sitten mit einer Leichtigkeit an, welche die Sklaven der Vorurtheile nicht haben können. Man kann behaupten, daß er den feinen Ton gerade deshalb um so leichter annehme, weil er so wenig Werth auf ihn legt.
    Täuscht euch gleichwol nicht über seine Haltung und vergleicht sie nicht mit der eurer jungen Herren, die so vortrefflich den Angenehmen zu spielen wissen. Er ist fest, aber nicht voller Selbstgefälligkeit; sein Benehmen ist frei, aber nicht wegwerfend. Ein unverschämtes Wesen ist nur ein Kennzeichen der Sklaverei; mit der Unabhängigkeit paart sich nichts Affectirtes. Noch nie habe ich gesehen, daß ein Mann, in dessen Herz ein edler Stolz wohnte, denselben auch in seiner Haltung verrathen hätte. Diese Sucht ist vielmehr niedrigen und eitlen Seelen eigen, die sich nur dadurch Geltung verschaffen können. Ich habe in einem Buche [56] gelesen, daß der berühmte Marcell, als sich ihm eines Tages ein Fremder in seinem Salon vorstellte, denselben gefragt habe, aus welchem Lande er sei.
    »Ich bin ein Engländer,« erwiderte der Fremde. »Sie, ein Engländer?« versetzte der Tänzer, »Sie sollten aus dieser Insel stammen, wo die Bürger Antheil an der Staatsverwaltung haben und einen Theil der höchsten Gewalt ausmachen? [57] Nein, mein Herr, diese gesenkte Stirn, dieser furchtsame Blick, dieses unsichere Auftreten lassen mich in Ihnen nur den betitelten Sklaven eines Kurfürsten erkennen.«
    Ich weiß nicht, ob dieses Urtheil eine große Kenntniß des wahren Verhältnisses, welches zwischen dem Charakter eines Menschen und seinem Aeußeren stattfindet, bekundet. Ich meinerseits, der ich nicht auf die Ehre Anspruch machen kann, Tanzmeister zu sein, würde das gerade Gegentheil gedacht haben. Ich hätte gesagt: »Dieser Engländer ist kein Hofmann. Nie habe ich vernommen, daß Hofschranzen eine gesenkte Stirn und ein unsicheres Auftreten hätten; ein Mann, der sich einem Tanzmeister gegenüber schüchtern benimmt, braucht deshalb noch nicht im Hause der Gemeinen verlegen aufzutreten.« Sicherlich muß dieser Herr Marcel seine Landsleute für lauter alte Römer halten.
    Wenn man liebt, will man geliebt werden. Emil liebt die Menschen; er will ihnen deshalb gefallen. Um so mehr will er den Frauen gefallen; sein Alter, seine Sitten, sein Plan, Alles trägt dazu bei, diesen Wunsch in ihm zu nähren. Ich sage seine Sitten, denn diese haben hierbei einen großen Einfluß. Die Männer, welche sich durch Sittlichkeit auszeichnen, sind die wahren Verehrer der Frauen. Es ist ihnen zwar jene eigentümliche artige Sprache der Galanterie fremd, aber sie treten den Frauen mit einer weitwahreren, zärtlicheren und von Herzen kommenden Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegen. Unter hunderttausend Wüstlingen, die eine junge Frau umflattern, würde ich einen gesitteten und seine Natur beherrschenden Mann auf der Stelle herauserkennen. Urtheilt nun selbst, wie Emil bei

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