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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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seiner eben erst erwachten Sinnlichkeit und bei so vielen Gründen, derselben nicht nachzugeben, sich benehmen wird. Ich glaube wohl, daß er im Verkehre mit Frauen bisweilen schüchtern und verlegen sein wird, aber sicherlich wird ihnen diese Verlegenheit nicht mißfallen, und selbst diejenigen, welche am wenigsten zur Schelmerei geneigt sind, werden nur zu oft alle Kunst aufbieten, um sich an ihr zu weiden und sie zu erhöhen. Uebrigens wird sich seine zuvorkommende Aufmerksamkeit nach den Umständen merklich ändern. Gegen verheirathete Frauen wird er bescheidener und ehrfurchtsvoller, gegen Jungfrauen lebhafter und zärtlicher sein. Er verliert den Gegenstand seines Suchens nie aus den Augen, und stets beweist er der Jungfrau, welche ihn an sein Ideal erinnert, die größte Aufmerksamkeit.
    Niemand wird pünktlicher in der Beobachtung alles dessen sein, was sich auf die Ordnung der Natur und selbst auf die gute gesellschaftliche Ordnung gründet; indeß wird er die erstere beständig der letzteren vorziehen, und wird deshalb einem Privatmanne, der älter ist als er, mit größerer Ehrerbietung nahen, als einer obrigkeitlichen Person, die mit ihm in gleichem Alter steht. Da er nun für gewöhnlich einer der jüngsten Herren in jeder Gesellschaft sein wird, so wird er auch stets zu den Bescheidensten gehören, nicht etwa aus Eitelkeit, um demüthig zu erscheinen, sondern aus einem natürlichen und auf die Vernunft gegründeten Gefühle. Er wird nicht das ungezogene Benehmen eines jungen Gecken nachahmen, der, um die Gesellschaft zu erheitern, lauter spricht als die Weisen und den Aelteren das Wort abschneidet. Er wird für seine Person nicht zu der Antwort berechtigen, die ein alter Edelmann Ludwig XV. auf die Frage gab, ob er dem gegenwärtigen oder dem verflossenen Jahrhunderte den Vorzug gäbe: »Sire, in meiner Jugend habe ich demAlter Ehrfurcht erwiesen, und jetzt, in meinem Alter, muß ich der Jugend mit Ehrfurcht entgegenkommen.«
    Da Emil ein weiches und gefühlvolles Herz hat, sich aber dabei von der hergebrachten Meinung nicht beeinflussen läßt, so wird er, obgleich es ihm Freude macht, Anderen zu gefallen, doch wenig danach fragen, ob er bei ihnen in hoher Achtung steht. Daraus folgt, daß er mehr herzlich als höflich, weder hochmüthig noch prunkvoll sein wird, und daß ihn eine Liebkosung mehr zu rühren vermag als tausend Lobsprüche. Aus denselben Gründen wird er weder seine Manieren noch seine Haltung vernachlässigen, er wird sogar auf seine Kleidung alle Sorgfalt verwenden können, nicht um als ein Mann von Geschmack zu erscheinen, sondern um ein gefälligeres Aeußere zu gewinnen. Aber nie wird er von Gold starrend einhergehen, nie wird ein Zeichen des Reichthums seine Kleidung verunzieren.
    Man begreift, daß dies Alles von meiner Seite keine jahrelange Einprägung von Vorschriften erfordert, sondern daß es nur die Wirkung von Emils erster Erziehung ist. Die Erlangung der Weltkenntniß wird uns gewöhnlich als ein schwer zu enthüllendes Geheimniß dargestellt, als ob ihre Erwerbung in dem Alter, in welchem man sich dieselbe aneignet, nicht etwas ganz Natürliches wäre, und als ob ihre Hauptgesetze nicht in einem ehrbaren Herzen zu finden wären! Die wahre Höflichkeit besteht darin, daß man einander mit Wohlwollen entgegenkommt. Sobald es uns an diesem nicht gebricht, tritt sie ohne Mühe hervor. Nur für diejenigen, welchen es eine unbekannte Tugend ist, hat man die Kunst erfinden müssen, sich wohlwollend zu stellen.
    »Die unheilvollste Wirkung der gewohnheitsmäßigen Höflichkeit zeigt sich darin, daß sie die Kunst lehrt, sich von den Tugenden frei zu halten, die sie nachahmt. Flöße man uns durch die Erziehung nur Menschenliebe und Wohlthätigkeitssinn ein, so wird es uns auch an Höflichkeit nicht fehlen, oder wir werden derselben vielmehr gar nicht erst bedürfen.«
    »Besitzen wir auch nicht die Höflichkeit, die ihrenAusdruck in einem artigen Benehmen findet, so werden wir uns doch derjenigen zu erfreuen haben, welche den Ehrenmann und den Bürger erkennen läßt; wir werden unsere Zuflucht nicht zur Falschheit zu nehmen brauchen.«
    »Statt durch Verstellung zu gefallen, wird es genügen, gut zu sein; statt falsch zu sein, um den Schwächen Anderer zu schmeicheln, wird es ausreichen, Nachsicht zu üben.«
    »Leute, denen gegenüber man ein so freundliches Benehmen beobachtet, werden dadurch weder stolz gemacht, noch verderbt werden; sie werden es nur dankbar aufnehmen und

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