Emil oder Ueber die Erziehung
aufrecht erhalten, ihn auch während seiner Verirrung zu leiten, um ihn wenigstens nicht in den Abgrund versinken zu lassen. Es ist von Wichtigkeit, daß der Schüler ohne Wissen und Willen des Lehrers nichts, nicht einmal wenn es böse ist, thue, und es ist hundertmal besser, daß der Lehrer einen Fehler billigt, wenn er sich dabei auch einer Täuschung hingibt, als daß er von seinem Zöglinge getäuscht und der Fehltritt ohne sein Wissen begangen würde. Wer sich einredet, die Augen bei irgend etwas zudrücken zu müssen, wird sich bald genöthigt sehen, sie bei Allem zuzudrücken. Der erste geduldete Mißbrauch führt in seinem Gefolge einen andern mit sich, und diese Kette endet erst mit dem Umsturz jeglicher Ordnung und mit der Verachtung jeder gesetzlichen Vorschrift.
Ein anderer Fehler, gegen den ich schon angekämpfthabe und der Leuten von geringen Gaben stets eigen sein wird, besteht darin, daß man sich beständig mit einer gewissen schulmeisterlichen Würde umhüllt und darauf ausgeht, in den Augen seines Schülers für einen vollkommenen Mann zu gelten. Diese Methode ist widersinnig. Vermögen Erzieher dieser Art denn nicht einzusehen, daß sie ihr Ansehen gerade durch das vernichten, wodurch sie es befestigen wollen; daß man sich, um seinen Worten Gehör zu verschaffen, an deren Stelle versetzen muß, an welche sie gerichtet sind, und daß man Mensch sein muß, um zum menschlichen Herzen reden zu können? Alle diese vollkommenen Leute sind außer Stande, zu rühren oder zu überzeugen; man sagt sich beständig, es sei für sie sehr leicht, Leidenschaften, die sie nicht fühlen, zu bekämpfen. Zeigt eurem Zöglinge eure Schwächen, wenn ihr anders darauf Anspruch macht, ihn von den seinigen zu heilen. Möge er bei euch dieselben Kämpfe wahrnehmen, die er zu bestehen hat; möge er an eurem Beispiele sich besiegen lernen und nicht wie die Anderen sagen: »Diese Greise sind voller Verdruß darüber, daß sie nicht mehr jung sind, und wollen deshalb die Jünglinge wie Greise behandeln, und weil ihre eigenen Begierden sämmtlich erloschen sind, rechnen sie uns die unserigen zum Verbrechen an.«
Montaigne berichtet, er habe den Herrn von Langey eines Tages gefragt, wie oft er sich als Gesandter in Deutschland im Dienste des Königs habe betrinken müssen. Ich möchte wol den Hofmeister eines gewissen jungen Herrn fragen, wie oft er zum Heile seines Zöglings ein verrufenes Haus betreten habe. Wie oft? Ich irre mich. Wenn nicht schon das erste Mal dem jungen Wüstlinge die Lust austreibt, je wieder seinen Fuß über jene Schwelle zu setzen, wenn nicht Scham und Reue seine Begleiterinnen auf dem Rückwege sind, wenn er nicht Ströme von Thränen an eurer Brust vergießt, dann gebt ihn sofort auf, dann ist er nur ein Unmensch oder ihr seid nur Schwachköpfe. Ihr werdet nicht mehr zu seinem Nutzen wirken können. Doch lassen wir diese alleräußersten Auswege bei Seite, die eben so traurig als gefährlich sind und mit unserer Erziehungsweise nichts zu schaffen haben.
Wie viele Vorsichtsmaßregeln müssen getroffen werden, bevor man einen jungen Mann von guter Herkunft den Anstoß erregenden Sitten der heutigen Zeit aussetzen darf! Diese Vorsichtsmaßregeln sind zwar lästig, aber sie sind unerläßlich. Gerade die Nachlässigkeit in diesem Punkte ist es, welche die ganze Jugend dem Verderben entgegenführt. In Folge der Ausschweifungen in frühen Jahren entarten die Menschen und sinken zu der Stufe hinab, auf der wir sie heut zu Tage erblicken. Selbst in ihren Lastern verächtlich und feig, haben sie nur gemeine Seelen, weil ihre abgelebten Körper schon frühzeitig zu Grunde gerichtet sind. Kaum ist ihnen noch so viel Lebenskraft übrig geblieben, daß sie sich rühren können. Ihre umherirrenden, haltlosen Gedanken verrathen Geister ohne Stoff; für etwas Großes und Edles fehlt ihnen alles Gefühl. Sie besitzen weder Natürlichkeit noch Kraft. In jeder Beziehung verworfen und boshaft bis zur Niederträchtigkeit zeichnen sie sich nur durch Eitelkeit, betrügerischen Sinn und Falschheit aus. Sie haben nicht einmal Muth genug, hervorragende Verbrecher zu werden. So sind die verächtlichen Menschen beschaffen, welche das in Völlerei und Ausschweifung zugebrachte Leben der Jugend erzeugt. Fände sich unter derselben ein Einziger, der ein mäßiges und nüchternes Leben zu führen verstände, der in ihrer Mitte sein Herz, sein Blut, seine Sitten vor der Ansteckung ihres Beispiels zu bewahren wüßte, so würde
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