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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Freundinnen, Gouvernanten, der Spiegel, vor Allem aber der eigene Geschmack. Man darf sich freilich nicht selbst anbieten, ihnen Unterricht zu ertheilen, man muß es ihnen überlassen, darum zu bitten. Man darf aus dem, was als eine Belohnung gelten soll, nicht eine regelmäßige Aufgabe machen. Bei diesem eigenthümlichen Unterrichte liegt der erste Erfolg schon darin, daß man auf Erfolg ausgeht. Wenn übrigens schlechterdings ein regelrechter Unterricht stattfinden soll, so will ich über das Geschlecht derer, denen er anzuvertrauen ist, durchaus keine bestimmte Entscheidung treffen. Ich weiß nicht, ob es die Nothwendigkeit dringend erfordert, daß gerade ein Tanzlehrer eine junge Schülerin an der zarten weißen Hand faßt, ihr befiehlt, den Rock zierlich aufzunehmen, die Augen aufzuschlagen und Gefühle in ihr erregt, daß ihr wallender Busen höher wogt. So viel aber weiß ich, daß ich um Alles in der Welt nicht jener Tanzlehrer sein möchte.
    Durch Fleiß und Fähigkeiten bildet sich der Geschmack; durch den Geschmack öffnet sich der Geist nach und nach den Ideen des Schönen auf jedem Gebiete und zuletzt auch noch den sittlichen Begriffen, welche mit ihnen im Zusammenhange stehen. Hierin hat man vielleicht einen der Gründe zu erkennen, weshalb bei den Mädchen das Gefühl für Schicklichkeit und Sittsamkeit eher erwacht, als bei den Knaben; denn wollte man sich etwa dem Wahne hingeben, daß das frühzeitige Erwachen dieses Gefühles das Werk der Erzieherinnen wäre, so verriethe man dadurch doch eine gar zu geringe Kenntniß von dem Wesen ihres Unterrichtes und von dem Entwickelungsgange des menschlichen Geistes. Die Gabe zu reden behauptet in der Kunst zu gefallen den ersten Rang. Durch sie allein lassen sich zu den Reizen, an welche sich die Sinne schongewöhnt haben, neue gesellen und sie noch erhöhen. Dem Geiste verdanken wir nicht allein die Belebung, sondern gewissermaßen auch die Erneuerung des Körpers. Durch die sich rastlos an einander reihende Kette von Gefühlen und Ideen bringt er Leben und Abwechselung in die Züge; und durch die Rede, zu welcher er die Gedanken eingibt, fesselt er unausgesetzt die Aufmerksamkeit und erhält lange Zeit das gleiche Interesse für den nämlichen Gegenstand wach. Aus all diesen Gründen eignen sich meiner Ansicht nach junge Mädchen so schnell das anmuthige Geplauder an, betonen ahnungsvoll ihre Worte, bevor sie selbst ihre ganze Tragweite verstehen, und hören Männer ihnen so gern zu, und zwar schon zu einer Zeit, in welcher die Mädchen noch nicht die Gründe verstehen. Die Männer warten auf den ersten Moment, wo jenen dieses Verständniß aufgeht, um so den ersten Moment benutzen zu können, wo ihr Gefühl erwacht.
    Die Frauen haben eine gewandte Zunge; sie sprechen zeitiger, leichter und angenehmer als die Männer. Man macht ihnen auch den Vorwurf, mehr zu sprechen. Das soll indeß so sein, und ich möchte ihnen diesen Vorwurf gern als ein Lob anrechnen. Mund und Augen sind bei ihnen stets gleichzeitig in Thätigkeit, und zwar aus demselben Grunde. Während der Mann das sagt, was er weiß, spricht die Frau das, was gefällt. Ersterer bedarf zum Reden Kenntnisse, Letztere Geschmack. Bei dem Manne soll das Nützliche, bei der Frau das Angenehme den Lieblingsgegenstand bilden. Das einzige Gemeinsame in ihren Reden muß in der Wahrheit bestehen.
    Deshalb darf man das Geplauder der Mädchen nicht wie das der Knaben durch die schroffe Frage »wozu nützt das?« in Schranken halten. Bei ihnen muß man eine andere stellen, deren Beantwortung freilich auch nicht leichter fällt, nämlich die Frage: »Welchen Eindruck wird das hervorbringen?« In dem zarten Alter, in welchen sie sich, da sie Gutes und Böses noch nicht zu unterscheiden vermögen, über Niemanden zum Richter aufwerfen dürfen, muß es ihnen als heiliges Gesetz gelten, denen, mit welchen sie reden, nur Angenehmes zu sagen. Der Umstandjedoch, daß diese Regel stets der Hauptregel, nie eine Unwahrheit zu sagen, untergeordnet bleibt, macht ihre Ausübung schwerer, als man denken sollte.
    Ich erblicke zwar noch viele andere Schwierigkeiten, aber sie machen sich erst in einem vorgerückteren Alter geltend. In dem Alter, in welchem die jungen Mädchen jetzt noch stehen, werden sie immer wahr sein, wenn sie sich von Unhöflichkeit frei zu halten wissen; und da ihnen dieselbe von Natur widerwärtig ist, so lernen sie durch die Erziehung leicht sie vermeiden. Bei der Beobachtung des Verkehrs in der Welt

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